„Da haben die Ärzte in der DDR versagt“

■ Berliner Ärtzekammerpräsident: Der medizinische Umgang mit Frühgeborenen muß ethisch diskutiert werden

Berlin (taz) — Wer entscheidet, ob und mit welchen Mitteln ein zu früh geborenes Kind am Leben erhalten werden soll? Diese Diskussion, die in ethischer Hinsicht ähnliche Probleme aufwirft wie die „Sterbehilfe“ bei alten und schwerstkranken Menschen, hat die bundesdeutsche Ärzteschaft seit langem gescheut. Nun wurde bekannt, daß in der Erfurter Frauenklinik sogenannte „Frühchen“, die weniger als 1.000 Gramm wogen, in einem Wassereimer ertränkt wurden. Der Spiegel vermutet, daß dies gängige Praxis auch in anderen Ostkliniken war.

Die DDR-Gesetzgebung machte es den Ärzten leicht, solchen Babys keine Chance zu geben. Solange sie nur ein Lebenszeichen zeigten — entweder die Atmung funktionierte oder das Herz schlug — galten sie im juristischen Sinne nicht als lebendig. Als einen der Gründe für diesen Umgang mit Neugeborenen nennt das Magazin politische Motive: die Statistiken über die Säuglingssterblichkeit sollten geschönt werden. Frühchen wurden in den offiziellen Zahlen überhaupt nicht als Geburten erfaßt.

In den alten Bundesländern gilt ein Kind, das bei seiner Geburt unter 1.000 Gramm wiegt oder vor der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt, als Fehlgeburt. Als Frühgeburt definieren Mediziner Neugeborene über 1.000 Gramm mit Vitalzeichen: Entweder Atmung, Herzschlag oder Nabelschnurpuls. Aber: „Es muß in jedem Einzelfall entschieden werden,“ so der Berliner Frauenarzt Pape-Grupe, „welches Kind mit intensivmedizinischer Behandlung am Leben gehalten werden soll. Wir bewegen uns da in einer Grauzone.“ Letztlich sei nicht entscheidend, ob man ein Kind, dem man keine Überlebenschance gebe in einem warmen Raum liegen lasse oder in einen Wassereimer stecke. „Vielleicht ist letzteres sogar humaner“, meint der Mediziner. Außerdem würde überall versucht, Medizinstatistiken zu schönen, auch im Westen.

Ähnlich sieht es der Präsident der Berliner Ärztekammer, Ellis Huber. Mit Hilfe der Apparatemedizin werde alles gemacht, „was möglich sei“ — obwohl man inzwischen wisse, daß die Gefahr von Behinderungen bei Frühgeburten, die man in einen Brutkasten stecke, sehr zunehme. Auch der Bitte von Eltern, das Leben nicht mit allen Mitteln der Intensivmedizin zu verlängern, würde meist nicht entsprochen. „An diesem Punkt“, so Huber, „sind wir gezwungen eine Verantwortungsethik zu entwickeln.“

Was jetzt über DDR-Ärzte berichtet würde, zeigt nach Ansicht des Ärztekammerpräsidenten, „die Hilflosigkeit des sozialistischen Systems“. Den Ostkollegen hätten keine Mittel zur angemessenen Betreuung zur Verfügung gestanden. Außerdem hätten sie unter dem ständigen Druck gestanden, „Erfolgszahlen für die Statistik“ zu liefern. Ärzte dürften sich solch einem Druck nicht beugen. „An diesem Punkt haben Einrichtungen und Ärzte in der DDR versagt. Aber wir haben keinen Grund mit Fingern auf sie zu zeigen. Unser westdeutscher Umgang mit Nazi-Ärzten — selbst denen, die Menschenversuche gemacht haben — war weitaus milder.“

Gegen die pauschalen Vorwürfe des Spiegel regt sich inzwischen Protest von ostdeutschen Frauenärzten. DDR-Mediziner hätten sich auch dann um das Leben von Frühgeborenen bemüht, wenn deren Geburtsgewicht unter 1.000 Gramm lag, sagten der Direktor der Frauenklinik an der Medizinischen Akademie Dresden, Bodo Sarembe, und Ludwig Grauel, Chef der Kinderklinik an der Berliner Charité. Bascha Mika