: Ultimatum für Flüchtlinge verstrichen
Norderstedter Kirchenbesetzung vor dem Ende/ Kirchenvorstand erstattet Strafanzeige ■ Aus Norderstedt Lisa Schönemann
Die Atmosphäre in der Norderstedter Schalom-Kirche war gestern von Anspannung und Erschöpfung geprägt. 15 Flüchtlinge, die sich seit über 100 Tagen in dem Gotteshaus vor den Toren Hamburgs aufhalten, hatten das letzte Ultimatum des Kirchenvorstandes ohne eigene Schritte verstreichen lassen. Zehn von ihnen befinden sich seit Tagen im Hungerstreik. Eigentlich sollten die Asylbewerber verschiedener Nationalität die Kirche bis gestern 9 Uhr verlassen haben. Die Gemeinde reagierte mit einem Strafantrag wegen Hausfriedensbruch. Eine polizeiliche Räumung war gestern nicht in Sicht.
Die Stimmung unter den rund 180 Unterstützern der Asylsuchenden war auch nicht besser. Hatte doch einer der Flüchtlinge am Montag vor laufenden Fersehkameras gerufen: „Wir haben hier keine Rechte“ und: „Die Unterstützer machen alles für uns.“ Die Sympathisanten haben den Vorwurf der politischen Instrumentalisierung brüsk zurückgewiesen. Jetzt haben sowohl die Norderstedter als auch die Bundes-Grünen den Kirchenbesetzern empfohlen, ihren verlorenen Kampf aufzugeben. Die evangelische Kirche hat den Besetzern (ohne sympathisierenden Anhang) ein Ausweichquartier im Kreis Stormarn angeboten. Bundesvorstandssprecherin Angelika Beer sprach sich für den Umzug der Flüchtlinge nach Mecklenburg-Vorpommern aus.
Die auch von der Landesregierung Schleswig- Holstein favorisierte Umverteilung der Flüchtlinge ist der eigentliche Grund für den seit Monaten schwelenden Konflikt. Die Asylbewerber wollen sich auf keinen Fall fremdenfeindlichen Übergriffen in den neuen Bundesländern aussetzen. Sie wollen bis zum Abschluß des Asylverfahrens in Norderstedt bleiben. Die Landesregierung hat diese Forderung mit einem klaren Nein beantwortet und die kleine Kirchengemeinde mit den aus der Besetzung resultierenden Problemen alleingelassen. Das Gemeindeleben in der Kirche des ehemaligen Amnesty-Generalsekretärs und Pastors Helmut Frenz ist praktisch völlig zum Erliegen gekommen. Jetzt hat der Kirchenvorstand mit der Strafanzeige einen ersten Schritt unternommen, die Kirche zurückzuerobern. Ein Polizeisprecher des Kreises Segeberg bestätigte gestern, daß der Strafantrag allein nicht ausreiche, eine polizeiliche Räumung zu inszenieren. Die Stadt Norderstedt müsse gleichzeitig eine Räumungsverfügung erlassen. „Ich mache so etwas zum ersten Mal“, erklärte dazu der Bürgermeister der kleinen Stadt, Volker Schmidt. „Wir werden uns untereinander abstimmen.“
Flüchtlinge besetzten Rathaus
Berlin (taz) — Rund 80 Flüchtlingsfrauen, Kinder und Mitglieder des Antirassistischen Zentrums besetzten am Dienstag vormittag während einer Senatskonferenz den Sitzungsvorraum im Berliner Roten Rathaus. Sie wollten beim Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen eine Zusage für eine öffentliche Verhandlung über die Lage der Flüchtlinge in der Technischen Universität (TU) erreichen. Die Initiative fordert das Bleiberecht von rund 100 Asylbewerbern, die seit mehr als vier Monaten Seminarräume der TU in Berlin besetzen. Sie waren größtenteils in Unterkünfte der neuen Bundesländer zugeteilt worden und nach eigenen Angaben „aus Angst vor rassistischen Angriffen“ nach Berlin geflohen. „Es geht uns darum, daß nach vier Monaten Besetzung in der TU endlich eine politische Lösung gefunden werden muß“, sagte ein Mitglied des Antirassistischen Zentrums. Bis jetzt seien die verantwortlichen Politiker nicht zu einem Gespräch bereit gewesen. Die Forderungen der Besetzerinnen wurden nicht erfüllt. Diepgens Kanzleichef Volker Kühne sicherte den Besetzerinnen nur ein Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister am heutigen Mittwoch zu — allerdings unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Dann ließ er die Frauen und Kinder von der Polizei „brutal räumen“, wie eine Besetzerin berichtete. Zwei Flüchtlingsfrauen erlitten einen Schwächeanfall und mußten ins Krankenhaus eingeliefert werden. coe
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen