Wohnen auf dem Schleudersitz

■ Wer in Gewerberäumen oder Fabriketagen wohnt, ist auf die Gutwilligkeit des Vermieters angewiesen/ Wenn die Mieten steigen, wächst die Sorge bei Bewohnern von Fabriketagen

Berlin. Die Wohngemeinschaft, der wir hier aus konspirativen Gründen den Namen »X« geben wollen, hat Erfahrung mit Gewerberäumen. WG-Mitglied Benn X flog schon vor Jahren aus einer Kreuzberger Fabriketage, weil sein Vermieter einen solventeren Kunden gefunden hatte. Da gibt es in solchen Fällen kein Erbarmen: Benno und seine MitbewohnerInnen hatten sich, um an das geräumige Quartier heranzukommen, auf die Fährnisse des Gewerbemietrechts eingelassen. Und das kennt keinen Kündigungsschutz, Verträge sind grundsätzlich befristet, die Höhe der Mieten wird »frei« ausgehandelt — mit anderen Worten: Der Vermieter nimmt, was er kriegen kann. Unter diesen Bedingungen stöhnen schon Läden und Betriebe, nichtkommerzielle Projekte oder soziale Einrichtungen sind nahezu chancenlos. Für Wohnmieter, sollte man denken, ist das Risiko schlichtweg unakzeptabel.

Trotzdem gibt es gerade in Berlin massenhaft bewohnte Gewerberäume. Was in anderen westdeutschen Großstädten schon seit Jahrzehnten Mangelware ist, nämlich Platz für Büros und Betriebe in der Innenstadt, gab es hier lange Zeit im Überfluß. Die ehemalige Industriemetropole war innerhalb des S-Bahn-Rings gespickt mit Fabrikgebäuden, Remisen und Ladenräumen. Zwar wurde vieles davon im Krieg zerstört, noch mehr fiel der Kahlschlagsanierung in den sechziger und siebziger Jahren zum Opfer. Es blieb aber immer noch mehr als genug erhalten. Dieser sogenannte Altbau-Gewerberaum war allerdings häufig nicht nur ungenutzt, sondern auch unbenutzbar. Die Gebäude erfreuten sich der ständigen Mißachtung durch ihre auf Abriß spekulierenden Besitzer.

»Klassische Nutzer« sind Künstler

Die »klassischen Nutzer« dieser Marktlücke waren Künstler. Wegen der mehr oder minder ausgeprägten Brotlosigkeit ihres Tuns waren sie an viel Platz für wenig Geld interessiert— Komfort spielte notgedrungen eine Nebenrolle. Zu ihnen gesellten sich Ende der siebziger Jahre Leute wie Benno X. Mit dem Siegeszug der Wohngemeinschaften gerieten die weiträumigen Fabriketagen bei den Anhängern alternativer Wohn- und Lebensformen schnell zu begehrten Objekten.

Zu Zeiten, als kollektivbegeisterte InstandbesetzerInnen sogar ihre Toiletten verglasten, um dem Rückzug ins Private entgegenzuwirken, bot ein nur von ein paar Stützpfeilern unterbrochener Raum von 200 oder mehr Quadratmetern geradezu optimale Bedingungen für ein harmonisches WG-Leben.

Dieser Trend ist seit langem rückläufig, doch der Beliebtheit der Fabriketage tat das keinen Abbruch. Schließlich läßt sich die wiederentdeckte Intimsphäre mit ein paar Rigipswänden (übrigens baubiologisch relativ unbedenklich) für wenig Geld rekonstruieren.

Ebensoleicht — und bei etwas juristischem Geschick sogar auf Kosten der Mieter — lassen sich derartige Einbauten wieder entfernen. Darum gaben sich auch die Hausbesitzer — lieber ein schlechter Mieter als gar keiner — mit der eigentlich unangemessenen Nutzung ihrer Immobilie zufrieden. Das Risiko war schließlich gering — sollte sich doch noch eine günstigere Gelegenheit ergeben, machte es keine Schwierigkeiten, den BewohnerInnen per Kündigung oder Mieterhöhung um ein paar hundert Prozent zu verdeutlichen, daß sie fehl am Platze seien.

Das mußte auch Benno X erfahren. Seine WG sah sich ziemlich unsanft und vor allem kurzfristig auf die Straße gesetzt — Gewerbemietverträge laufen in der Regel drei bis fünf, oft aber auch nur ein Jahr. Also mußte schnell Ersatz her, und zwar eine ganze Menge. Vier Erwachsene und drei Kinder waren inzwischen unterzubringen — schon damals, vor fünf Jahren, auf dem Berliner Wohnungsmarkt nahezu unmöglich.

Blieb nur eins: Gewerberaum. Diesmal aber richtig. Benno meldete ein Gewerbe an, gab eine Anzeige in einer Zeitung auf und hatte schon bald Erfolg. In einem Weddinger Hinterhaus fanden sind hinreichend große Räume. Das neue Quartier war auch vom Zuschnitt her günstiger, weil eigentlich von einer ganz normalen Wohnung nicht zu unterscheiden.

Die Überlegung, daß ein Weddinger Hinterhaus trotz Gewerbemietvertrag relativ sicher sei, könnte sich jedoch noch als Trugschluß erweisen. Denn seit der damalige Bürgermeister Walter Momper Berlin zur künftigen »Dienstleistungsmetropole« erklärt hat, ist hier überhaupt nichts mehr sicher. Reihenweise fliegen Künstler, Kinderläden, soziale Projekte und auch »normale« Gewerbetreibende aus ihren Räumen, weil zahlungskräftige Nachmieter — und sei es auch nur in der Phantasie der Hausbesitzer — auf der Matte stehen.

Auch der Vermieter der WG »X« wollte seinen Schnitt machen und kündigte. Zwar ließ er sich auf das Angebot ein, es doch erst einmal mit einer Mieterhöhung zu versuchen, aber auch da fehlte ihm das rechte Maß. Statt bisher acht wollte er nun 20 Mark pro Quadratmeter kassieren. »Bei zehn oder zwölf Mark«, so Benno X., »hätten wir wahrscheinlich unterschrieben.«

So aber ging die WG zum Rechtsanwalt, und der wurde stutzig, weil schon seit Jahren in allen Schreiben des Vermieters nie das Wort »Gewerbe« auftauchte, statt dessen gelegentlich von »ihrer Wohnung« gesprochen wurde. Benno X hatte offenbar noch mal Schwein gehabt. Ein Anruf beim Bezirk ergab, daß für das Haus überhaupt keine Gewerberäume eingetragen sind. Es sieht somit ganz danach aus, als könne sich die WG »X« noch eine Weile auf ihrem Schleudersitz ausruhen. Jochen Siemer