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INTERVIEW„Es gibt eine Befangenheit“

■ Der SPD-Bundestagsabgeordnete Weisskirchen zur früheren Ost-Politik

taz: Sie gelten als einer der wenigen exponierteren SPD-Politiker, die auch vor der Wende intensiven Kontakt zu den Bürgerrechtlern in der DDR und in Osteuropa hatten. Demgegenüber war die offizielle Entspannungspolitik der SPD auf zwischenstaatliche Normalisierung konzentriert. Die oppositionellen Bewegungen in Osteuropa erschienen da eher als Störfaktoren. Ärgert es Sie, daß sich die SPD bislang der kritischen Auseinandersetzung über ihre Ost- und Entspannungspolitik entzieht?

Gert Weisskirchen: Es gibt eine Befangenheit, über dieses Thema offen zu reden, weil die Entspannungspolitik für die Sozialdemokratie ein identitätsstiftendes Moment darstellt. Alle kritischen Fragen rühren an dieser Identität. Dieses Unbehagen wird verstärkt durch die massiven Angriffe aus dem rechten Spektrum, das seinerseits rein gar nichts zur Ost- West-Entspannung beigetragen hat und seine Verweigerung heute als großen Vorzug verkauft. Drittens ist es für die SPD auch nicht einfach, sich der inhaltlich berechtigten Kritik zu stellen, sie habe es im Zuge einer etatistisch geprägten Politik versäumt, mit den Freiheitsbewegungen in Osteuropa zu kooperieren. Ich glaube dennoch, daß die SPD sehr gute Chancen hat, diese Auseinandersetzung zu bestehen — auch wenn sie dabei die Dilemmata der Entspannungspolitik thematisiert.

Woran lag es, daß die SPD immer bessere Beziehungen zu den Herrschenden in Osteuropa hatte als zur Opposition?

Die Entspannungspolitik war von ihren Designern angelegt als langfristiger, stabiler Prozeß zwischen den Systemen. Dieser Prozeß galt als Grundlage für eine allmähliche Reform innerhalb der osteuropäischen Staaten selbst. Das Problem war — für die SPD unerwartet —, daß die Menschen innerhalb der Gesellschaften Osteuropas sich die Entspannungspolitik ganz plötzlich selbst zu eigen gemacht haben und sie gegen die Herrschenden wendeten. Das schien einigen in der SPD als eine Störung des Prozesses. Für mich war das eine Entwicklung, die im Entspannungsprozeß notwendigerweise angelegt war.

Bedeutete die osteuropäische Opposition nicht auch eine Kritik der Entspannungspolitik selbst, der die Stabilität der Regime über alles ging? Sie suggerieren, daß die oppositionellen Bewegungen aus dem Entspannungsprozess selbst hervorgingen. Man könnte auch sagen, sie entstanden trotz einer Entspannungspolitik, die die zwischenstaatliche Normalisierung auf Kosten dieser Bewegungen vorantrieb.

Da würde ich Sie doch bitten, sich die Helsinki-Schlußakte genau anzusehen. Es handelt sich dabei zwar um einen Kompromiß zwischen etatistisch Orientierten im Westen und im Osten; aber der Osten mußte im Zuge dieses Kompromisses bürgerrechtliche und freiheitliche Elemente akzeptieren. Das war der Sprengsatz, der im Grunde von Anfang an in der Entspannungspolitik angelegt war und den sich die Machthaber im Osten für die Anerkennung des territorialen Status quo durch den Westen eingehandelt haben. Aber es gibt ja auch den gesellschaftlichen Status quo, der konnte nicht einzementiert werden. Den aber hat die Entspannungspolitik auch nicht akzeptiert...

...nicht explizit, aber doch implizit durch ihre Praxis. Wurde die Anerkennung des territorialen Status quo nicht doch schleichend auf den gesellschaftlichen Status quo in Osteuropa ausgedehnt?

Man darf nicht vergessen, daß der territoriale Status quo vom Osten bis zum Beginn der Entspannungspolitik immer wieder eingefordert wurde. Das haben sie bekommen, und im Tausch lag die Erwartung von westlicher Seite, daß damit dann auch langfristig innergesellschaftliche Veränderungen ermöglicht würden, freilich ohne systemsprengende Qualität. Das war ein Kompromiß, wobei die im Osten dachten, mit der Legitimationszufuhr aus dem Westen wird es uns ein leichtes sein, die Bewegungen im Land zu domestizieren...

... eine Rechnung, die mit der SPD bis weit über das Jahr 2000 aufgegangen wäre.

Sie ist deshalb nicht aufgegangen, weil die Menschen es nicht mitgemacht haben. Es war falsch, daß die SPD das allzulange als Störung begriffen hat. Die SPD hat es an einem bestimmten Punkt verpaßt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaften wirklich ernst zu nehmen und die Freiheitsbewegung als ermutigend im Sinne ihrer Politik zu begreifen. An diesem Punkt gibt es ein historisches Versäumnis der Sozialdemokratie, das kann man nicht wegleugnen. Ab 1980/81 hätte sie ihren gouvernementalen, stabilitätsorientierten Politikansatz verändern müssen. Der entscheidende Satz von Gorbatschow fiel allerdings erst 1988 in Prag, als er in Erinnerung an die Okkupation von 68 versicherte, daß es niemals wieder den Versuch geben werde, einen Emanzipationsprozeß in Osteuropa gewaltsam zu ersticken. Ab diesem Moment hätte die Sozialdemokratie umschalten und die Fortführung der Entspannungspolitik von einer grundlegenden Reform des Kommunismus abhängig machen müssen.

Spielt da nicht auch so etwas wie ein paralleles autoritäres Politikverständnis in Ost und West eine Rolle? Die Ignoranz gegenüber den Bewegungen im Zuge der Entspannungspolitik war doch nur ein Beispiel einer generellen Unsicherheit und Ablehnung der SPD gegenüber Bewegungen „von unten“?

Das ist zutreffend. Die SPD hat mit solchen Bewegungen immer ihre Schwierigkeiten gehabt. Das ist insofern nicht leicht zu verstehen, weil die Empörung gegen Ungerechtigkeit ja einmal das auslösende Moment zur Konstituierung der Sozialdemokratie selbst gewesen ist. Nur hat sie dann im Verlauf der Geschichte etatistischen Charakter angenommen und konnte dann schwer verstehen, daß es querliegende Bewegungen gibt, die den Etatismus kritisieren und ablehnen.

Welche Chancen hatten die Kritiker des entspannungspolitischen Mainstreams in der Partei?

Wir hatten immer Artikulationschancen. Das Problem lag darin, daß die Mehrheit Entspannung weiter an die Stabilität der Regierungen binden wollte. Dagegen stand das Konzept der Stabilisierung durch Demokratie. Als etwa in der DDR nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration 1988 die Nomenklatura zu verstehen gab, daß sie einen Versuch der Verkoppelung der Ebenen Staat, Kirche, autonome Gruppen aus Angst vor dem Machtverlust nicht ermöglichen würde, da hätte man sagen müssen: jetzt ist Schluß — mit der starken Orientierung auf die etatistische Ebene. Jetzt müssen die Verbindungen zu den Unabhängigen deutlich ausgeweitet werden. Es gab durchaus auch Ansätze aus der SPD-Fraktion, mit den Gruppen ins Gespräch zu kommen. Es gab da schon Auflockerung in der Strategie.

Wenn man an die Gründung der Ost-SPD denkt, kommt man doch in Zweifel, ob sich viel bewegt hatte. Noch im Oktober 89 hat die West- SPD sehr skeptisch auf die illegale Gründung ihrer Ost-Schwester reagiert — ganz im Geiste des eingefahrenen Rituals.

Kein schönes Kapitel sozialdemokratischer Geschichte. Noch am Gründungstag gab es kritische Kommentare. Wenige Wochen danach, als klar war, daß der Prozeß unaufhaltsam geworden war, hat die SPD dann den historischen Schwenk vollzogen; der war nicht an sich falsch, nur das Verhalten vorher war nicht angemessen. Da wurde dann mit einem Salto versucht, den Sprung der Geschichte wieder einzuholen. Die Landung war sehr unglücklich. Das ist meiner Meinung nach ein Grund dafür, daß die Sozialdemokratie ihre innere Stabilität gegenüber dem, was sich in Europa vollzogen hat, noch nicht wiedergefunden hat.

Reichlich Stoff für die bald beginnende Debatte, ohne die die SPD kaum ihren Anspruch auf außenpolitische Mitgestaltung überzeugend wird geltend machen können.

Der Entspannungsprozeß hat eine Menge Widersprüche hervorgetrieben, mit denen sich die SPD bislang nicht so auseinandergesetzt hat, wie es notwendig gewesen wäre. Aber man muß festhalten: Die Entspannungspolitik war eine Brücke der praktischen Vernunft, die in einer bestimmten Phase notwendig gewesen ist. Ich bin davon überzeugt, daß, bei allen Fehlern, die im Laufe des Prozesses gemacht wurden, Europa ohne die Entspannungspolitik heute noch geteilt wäre. Nur die SPD war in der Lage, diese Politik zu entwerfen und durchzusetzen, weil die CDU durch ihren prinzipiellen Antikommunismus nicht in der Lage war, den damals notwendigen Kompromiß zwischen — im Grunde unversöhnlichen — Politikmodellen überhaupt nur zu denken. Dennoch muß die SPD mit den Unstimmigkeiten der Entspannungspolitik selbstkritisch umgehen. Sonst wird es schwer für sie werden, die deutsche Außenpolitik, die jetzt neu formuliert wird, entscheidend mitzubeeinflussen. Interview: Matthias Geis

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