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NAHEZU VERGESSEN

■ Die Kulturmetropole Florenz und der totgeschwiegene Teil der Vergangenheit

Die Kulturmetropole Florenz und der totgeschwiegene Teil der Vergangenheit

VONTHOMASWINKLER

Der Kulturtourismus dieser Tage hat die Angewohnheit, jenen Teil der Bevölkerung totzuschweigen, ohne deren Arbeit die Kulturschätze und Bauwerke, die so ausgiebig bestaunt werden, nicht geschaffen worden wären. Die Gründe sind offensichtlich. Der wissenshungrige Neckermann interessiert sich weder für seine eigene Situation als Lohnempfänger noch für die seiner Vorgänger in der Vergangenheit. Und warum sollten Kulturdezernenten und Museumsdirektoren wenig ruhmreiche Kapitel beleuchten und sich als Aufklärer betätigen, wenn sie doch hauptsächlich an belegten Hotelzimmer interessiert sind?

Florenz ist als selbsternannte Kulturhauptstadt Europas und real existierendes Freilichtmuseum nicht nur ein klassisches, sondern auch ein krasses Beispiel für diesen Snobismus. Der Pauschaltourist wird durch die altehrwürdigen Uffizien, die Palazzi und Kirchen geschleust, mit der Brechstange auf der Suche nach der Vergangenheit: Er findet Fresken, viel gemaltes Öl und behauenen Marmor. Bestenfalls erfährt er, daß jener Medici dieses Bild von Michelangelo bezahlt hat, weil der Gönner selbst auf dem Gemälde abgebildet ist. Womit der Mäzen das Geld für solche Großzügigkeit verdient hat, wird nicht weiter erwähnt. Der fabelhafte Reichtum der mittelalterlichen Plutokraten kommt scheinbar aus dem Nichts. Und die Stadt Florenz bastelt weiter an diesem Mythos, denn kaum eine andere Stadt ist so auf den Tourismus angewiesen und baut ihr Überleben so intensiv auf die Vermittlung von Geschichte.

Aber auch wer nicht pauschal gebucht hat und mit offenen Augen durch die Stadt geht, findet in Florenz keine Spuren des popolo minuto, wie die tagelöhnende Unterschicht genannt wurde, denn deren Spuren sind getilgt. Um Bleibendes zu schaffen, ist Geld und Macht nötig. Zugegebenermaßen machten die Massen im dunklen Mittelalter selten Politik und bestimmten noch seltener den Lauf der Geschichte. Aber auch wenn sie plötzlich und unerwartet zum politischen Faktor wurden und aus ihrer von den Mächtigen gewünschten Apathie erwachten, vernachlässigte dies die Geschichtsschreibung.

Dieser Mechanismus hat auch den Tumulto dei Ciompi, den Aufstand der Wollarbeiter in Florenz im Sommer 1378, in Vergessenheit geraten lassen. Erst in den letzten Jahrzehnten begannen Historiker sich mit diesem Kapitel der Geschichte der strahlenden Stadt Florenz zu beschäftigen. Florenz gründete seinen Reichtum auf die Textilindustrie und den Fernhandel mit Luxusgütern. Neben den traditionellen Handwerkszünften hatte sich in den norditalienischen Städten eine Unterschicht aus Tagelöhnern entwickelt. Landflucht und die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten waren Merkmale dieser Industrie, die damit den frühkapitalistischen Erscheinungen des 19. Jahrhunderts weit näher kam als die sonstige Handwerkswirtschaft des Mittelalters. Bereits 1330 lebte ungefähr ein Fünftel der 90.000 EinwohnerInnen von Florenz unterhalb der Armutsgrenze. 1371 erließ die „Arte della Lana“, die Zunft der Tuchproduzenten, ein Gesetz, nach dem die ArbeiterInnen ihre Schulden nicht mehr bar zurückzahlen durften, sondern sie abarbeiten mußten, was sie vollständig zu Lohnsklaven machte. Während an der Produktion mehrere tausend Arbeiter beteiligt waren, hatten nur wenige hundert Zunftrecht in der „Arte della Lana“. Trotzdem unterstand jeder Arbeiter der Jurisdiktion der Zunft und nicht etwa der der Stadt Florenz.

Die Banken in Florenz, die über längere Zeit die reichsten in Europa waren, hätten ohne die Wolle oder besser das Geld, das durch die Veredelung der Wolle zu Tuch in die Stadt floß, nicht entstehen können. Nicht umsonst waren fast alle Bankiers auch lanaioli, also Tuchfabrikanten und -großhändler.

Der Aufstand des Jahres 1378 war nicht der einzige in Florenz. Und Florenz war nicht die einzige Stadt Italiens, in der es Aufstände von Wollarbeitern gab. Was diese Revolte hervorhebt, ist die Tatsache, daß sie die erfolgreichste und durchdachteste war, mit Forderungen, die zeigten, daß die ciompi durchaus wußten, von wem und mit welchen Mitteln sie unterdrückt und ausgebeutet wurden.

Der Tumulto dei Ciompi begann am 18. Juni 1378, zunächst noch gesteuert von aufstrebenden Gruppen des reichen Bürgertums, die im Aufstand eine Chance sahen, ihre Positionen zu erweitern. Als die Bürger erreicht hatten, was sie wollten, durchschauten die Wollarbeiter rasch, daß sie nur benutzt worden waren. Sie organisierten sich und stellten selbst Forderungen. In erster Linie wollten sie ein eigenes Zunftrecht. Ohne Zunft oder die Mitgliedschaft in einer Zunft gab es keine Möglichkeit zur politischen Partizipation. Alle vorherigen Versuche der Ciompi, sich gewerkschaftsähnlich zu organisieren, waren durch Hinrichtungen der Anführer im Ansatz verhindert worden. Nun forderten die Wollarbeiter neben dem eigenen Zunftrecht auch die Schuldentilgung, ein Viertel aller politischen Ämter für das popolo minuto und eine Sperrminorität gegen die anderen Zünfte.

Am 21. Juli hatten die Wollarbeiter alle zentralen Forderungen ohne größere Ausschreitungen durchgesetzt. Einzig die Henker der Stadt mußten daran glauben und wurden gelyncht. Selbst als die Häuser der Reichen in Flammen aufgingen und der Palazzo Vecchio, der damalige Regierungssitz, gestürmt wurde, fanden keine Plünderungen statt. Vielmehr wurden systematisch die Unterlagen der Zünfte, vor allem die Schuldverschreibungen vernichtet. Eine unglaubliche Disziplin, wenn man bedenkt, in welcher Armut die ciompi lebten. Aber schon nach vier Wochen war alles beim Alten. Die anderen Stadtstaaten unterstützten aus Angst vor den eigenen Arbeitern die alten Herren und marschierten mit Truppen in Florenz ein, nachdem die Wollarbeiter durch Aussperrungen zermürbt worden waren.

Nur einen Monat alt wurde das demokratischste politische System der Prämoderne. Wer heute nach Florenz kommt und nach Spuren sucht, dem vermittelt sich das Gefühl, als hätte der Tumulto dei Ciompi nie stattgefunden.

Zum Weiterlesen: Ernst Piper, Der Aufstand der Ciompi , Wagenbach Taschenbuchverlag, Berlin.

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