: Unklarheit über den Begriff „Vertreibung“
■ Da im Vertrag die Eigentumsansprüche der Sudetendeutschen nicht geregelt worden sind, ist nach Meinung vieler Tschechoslowaken der „dicke Schlußstrich“ nur ein dünner
Bundesaußenminister Genscher und sein tschechoslowakischer Amtskollege Jiri Dienstbier hatten es immer wieder betont: Mit dem deutsch- tschechoslowakischen Vertrag „über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ sollte ein „dicker Schlußstrich“ unter die leidvolle gemeinsame Geschichte beider Völker gezogen werden. So erklärt sich die BRD bereit, die CSFR bei ihrem Antrag auf EG- Mitgliedschaft zu unterstützen. Enge Zusammenarbeit wird bei internationalen Finanzorganisationen wie der Weltbank, bei der Bekämpfung der Kriminalität, aber auch bei der Denkmalpflege angestrebt.
Doch wenn Helmut Kohl und Václav Havel an diesem Donnerstag auf dem Prager Hradschin ihre Unterschrift unter den Vertrag setzen werden, wird die Diskussion über die „Zerschlagung der Tschechoslowakei“, über „Vertreibung“ und „Wiedergutmachung“ lauter sein als in den beiden vergangenen Jahrzehnten. Da die Eigentumsansprüche der Sudetendeutschen nicht geregelt worden sind, könne, so eine Prager Zeitung, lediglich von einem „dünnen Strich unter die Vergangenheit“ gesprochen werden. Warum, so fragen etwa sozialdemokratische Abgeordnete, wird im deutschen Vertragstext lediglich von der Bestätigung der zwischen der Bundesrepublik und der CSFR „bestehenden Grenze“, nicht aber von „Staatsgrenze“ gesprochen? Schließlich, so weist die ex-kommunistische Parteizeitung 'Rude pravo‘ nach, werde dieser Begriff doch auch in anderen internationalen Dokumenten der BRD verwendet.
Alte Wunden hat auch der in der Präambel des Vertrages verwendete Begriff der „Vertreibung“ aufgerissen. Die Mehrheit der Tschechen und Slowaken ist weiterhin der Ansicht, daß die „Aussiedlung“ von nahezu drei Millionen Deutschen eine „verständliche Reaktion“ auf die Nazi-Verbrechen im Protektorat Böhmen und Mähren gewesen sei. Auf all diese Fragen hat Dienstbier lange keine Antwort gegeben. Zu einer Erläuterung der Probleme kam es erst am Dienstag vor den Abgeordneten des tschechischen Nationalrates: Die BRD könne die „Nullität von Anfang an“ nicht akzeptieren, da damit die deutsche Staatsbürgerschaft der Sudetendeutschen in Frage gestellt würde. Der in der tschechischen Version auftauchende Begriff der „Staatsgrenze“ sei auf den Perfektionismus der tschechischen Beamten zurückzuführen, die das Wort „Staat“ hinzugefügt hätten. Schließlich: „Ein Vertrag ist eben stets ein Kompromiß.“
Inzwischen jedoch wächst die Kritik an diesem Kompromiß nicht nur in der tschechoslowakischen Opposition, sondern auch in der Regierung selbst. Václav Klaus, Finanzminister und Vorsitzender der stärksten Partei der Tschechischen Republik, stellte fest, daß die Verwendung des Begriffes „Vertreibung“ der „Keim für gewisse Rechtsansprüche“ der Sudetendeutschen sein könnte. Und selbst Dienstbiers Parteifreund, der tschechische Premier Petr Pithart, ist der Ansicht, daß der Vertrag durch die Ausklammerung der Eigentumsfrage „keine Unsicherheiten, aber auch keine Sicherheiten“ bringe. Für den fehlenden Fortschritt macht Pithart in erster Linie die deutsche Seite verantwortlich. Diese hätte die „Veränderungen, zu denen es in unserem Land gekommen ist, nicht bemerkt“. „Enttäuscht“ stellte er fest, daß gegenüber dem Jahre 1973 „kein allzu großer Fortschritt“ erreicht worden sei. „Wenn es an mir wäre, würde ich abwägen, ob es sich lohnt, solch einen Vertrag einfach zu unterschreiben.“ Sabine Herre
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