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Zu schnell aus der Familie entfernt

■ Reinhart Wolff, Mitbegründer des Kinderschutz-Zentrums, zum Problem der Heimkinder

Reinhart Wolff hat 1975 das Kinderschutz-Zentrum Berlin mitbegründet und ist seit 1977 Professor an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, deren Rektor er heute ist.

taz: Immer mehr Kinder kommen ins Heim. Die Zahl der Kinder unter sechs Jahren in Berliner Heimen ist seit 1984 um vierzig Prozent angestiegen. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?

Reinhart Wolff: Die unteren Schichten sind in den vergangenen Jahren zunehmend unter Druck geraten. Das gilt zum einen materiell, sie sind ärmer geworden, es ist auf dem Berliner Wohnungsmarkt für sie schwerer geworden, eine angemessene Wohnung zu finden; zum anderen geraten sie häufiger in schwere Beziehungsprobleme. Es gibt immer mehr sogenannte Multiproblemfamilien. Diese deutliche Verarmung des unteren Viertels unserer Gesellschaft führt verstärkt zu Krisen in der Familie; bereits am Familienanfang kommt es zur Paarkrise und zum Zusammenbruch.

Gerade alleinstehende Mütter halten dem Druck dann oft nicht stand. Das rächt sich an den Kindern. Unter bestimmten Umständen, bei Obdachlosigkeit und Enttäuschungen im Verhältnis zum Kind zum Beispiel sind viele Frauen allein und ohne Hilfe faktisch gezwungen, ihre Kinder aufzugeben.

Welche Auswirkungen hat der Heimaufenthalt auf das kleine Kind?

Es kommt darauf an, wie gut ein Heim ist, ob es nach Ausstattung und Beziehungsqualität in der Lage ist, die Wunden dieser in ihrer Entwicklung gefährlich vernachlässigten und mißhandelten Kinder zu heilen, jedenfalls sie nicht zu vertiefen. Eine Unterbringung sehr kleiner Kinder in einem zu großen Heim mit häufig wechselnden Beziehungspersonen (Schichtdienst) führt dazu, daß den Kindern der Kontakt zu einer dringend benötigten festen Bezugsperson fehlt. In zu großen Gruppen (mit über acht Kindern) wird den Kindern eine emotionale Bindung, die für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig ist — das Ich bildet sich ja erst gerade— vorenthalten.

Ich halte Heime aber nicht generell für ungeeignet. Sie müssen nur Sicherheit, Überschaubarkeit und Kontinuität gewährleisten. Bei besonders verstörten Kindern gilt sogar, daß hier oft eine kleine Heimgruppe mit professioneller Betreuung die schweren Störungen besser aufarbeiten kann, als dies von einer normalen Pflegefamilie geleistet werden kann, die vermutlich überfordert wäre.

In wie vielen Fällen ist denn eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie möglich?

Das hängt davon ab, wie intensiv mit der Herkunftsfamilie gearbeitet werden kann, wie das Milieu verändert und gestützt werden kann. Im Modellversuch des Kinderschutz- Zentrums Berlin haben wir gezeigt, daß fünfzig bis sechzig Prozent der Kinder, die in der Kinderwohngruppe untergebracht waren, in ihre Familien zurückkehren konnten. Die Bedingung dafür war allerdings eine intensive Arbeit nicht nur mit dem Kind, sondern vor allem mit den Eltern. Und die findet bei vielen Fremdunterbringungen in der Praxis zumeist nicht statt.

Wollen Sie auch sexuell mißbrauchte Kinder in die Familien zurückschicken?

Das läßt sich so pauschal nicht beantworten. Es hängt im wesentlichen davon ab, wie schwer die Mißhandlung war und ob sie als solche von den Betroffenen gesehen, akzeptiert wird, nicht zuletzt, ob Hilfe angenommen und am Problem gearbeitet wird.

Immer, wo das nicht der Fall ist, aber eine schwere Mißhandlung mit chronischer Tendenz vorliegt, muß entweder der Mißhandelnde die Familie verlassen oder das Kind. Die gegenwärtige Skandalisierung und Hysterisierung der sexuellen Mißhandlung trägt natürlich nicht dazu bei, daß der Zugang zu den Familien leichter wird.

Mit einer offenen Haltung und fachlicher Kompetenz kann man aber auch bei sexueller Mißhandlung mit der Familie arbeiten, sie bei der Klärung ihrer schweren Konflikte und Perversionen unterstützen. Mein Eindruck ist, daß bei sexuellen Mißhandlungen Kinder häufig zu schnell außerhalb der Familie untergebracht werden.

Werden mit der Option der Rückkehr in eine belastete Umgebung nicht viele Konflikte auf dem Rücken der Kinder ausgetragen? Ein Kind ist doch kein Versuchskaninchen.

Ein hilf- und planloses Hin und Her zwischen Heimen, Pflegestellen und Herkunftsfamilien (vor allem im Zuge schwerer Sorgerechtskriege) muß vermieden werden. Aber man muß doch festhalten: Ob zu Hause, im Heim oder in einer Pflegefamilie – die Beziehungen zu den Herkunftsfamilien, den Eltern und die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Kinder wie der Eltern müssen, wenn sich etwas ändern soll, ohnehin aufgearbeitet werden.

Um diese Aufarbeitung wird niemand, auch das Kind nicht, herumkommen. Und oft ist es besser, es wird früh mit der Auseinandersetzung, der Klärung begonnen, begleitet von Fachleuten, wenn die Konflikte erst chronisch geworden sind und im späteren Erwachsenenalter ist es oft viel schwieriger, wenn nicht unmöglich. Interview: Jeannette Goddar

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