„Den Bau unter Einsatz unseres Lebens verhindern“

In Hamburg wollen orthodoxe Juden den Bau eines Wohn- und Geschäftshauses verhindern, weil dort vor sechzig Jahren ein Friedhof lag/ Internationale Proteste, doch die Stadt fühlt sich nicht zuständig/ Hamburgs Jüdische Gemeinde hat keine Bedenken gegen den Bau  ■ Aus Hamburg Julia Kossmann

Morgens um acht auf der Baustelle des Hertie-Karrees im Hamburger Stadtteil Ottensen: Acht orthodoxe Juden mit Hut und Schläfenlocken, in gedämpfte Gespräche in englischer, französischer, jiddischer Sprache vertieft, wachen in dieser Umbaulandschaft voller Trümmer bei ihren toten Ahnen. Ein Grüppchen Fotografen und Journalisten steht — ohne Kopfbedeckung und abwartend — herum, ebenso wie einige Bauarbeiter, für die kurz nach Arbeitsbeginn schon wieder Pause ist. Die Bauleitung bespricht derweil technische Fragen des weiteren Abrisses der alten Gebäude.

Nichts, außer den ruhigen Demonstranten, deutet auf den ersten Blick darauf hin, daß an dieser Stelle bis 1939, als die Nazis den Platz planierten und einen Luftschutzbunker errichteten, ein 300 Jahre alter jüdischer Friedhof lag. Bis zum letzten Herbst war diese Tatsache fast in Vergessenheit geraten. Während eine Gruppe soldatentümelnder Hamburger in den letzten Monaten 40.000 Mark sammeln konnte, um ein Kriegsklotzdenkmal am Dammtor-Bahnhof zu reinigen, bemüht sich seit sechs Jahren ein kleiner Verein engagierter Hamburger Juden und Nichtjuden beim zuständigen Bezirksamt Altona vergeblich um eine Gedenktafel für die vergessenen Toten in Ottensen.

1950 hatte die Jewish Trust Company, eine Treuhandgesellschaft, die sich nach dem Krieg um die Verwaltung enteigneten jüdischen Besitzes kümmerte, einen Großteil des Geländes an den Tietz-Konzern, besser bekannt als Hertie, verkauft. Als Hertie 1953 mit dem Bau des Kaufhauses begann, wurden Grabsteine und Gebeine, die man noch fand, auf den Friedhof in Ohlsdorf umgebettet. Was die Jüdische Gemeinde in Hamburg in der damaligen, chaotischen Zeit des Wiederaufbaus duldete, ist für orthodoxe Juden ein Verbrechen. Die Ruhe der Toten ist für sie ein Tabu, egal wie lange sie schon in der Erde liegen. 1953 aber hatten die wenigen deutschen Juden, die den Holocaust überlebt hatten, andere Sorgen.

Heute bedauert der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde, Heinz Jaeckel, den — vermeidbaren — Verkauf der Fläche. Wie die Mehrheit der etwa 1.300 Juden, die heute noch in Hamburg leben, vertritt er einen moderaten Standpunkt: „Die Jüdische Gemeinde hat keine Bedenken gegen den Bau.“ Damit stellt sich die Hamburger Gemeinde für die orthodox-jüdischen Verbände ins religiöse Abseits.

Der Rabbiner Abraham Goldmann ist aus London angereist, um die Hamburger Toten zu schützen, nachdem ein eintägiger Baustopp, aufgrund eines fehlenden Dokuments des Bauherrn, am Mittwoch wieder aufgehoben wurde. Der junge Geistliche erklärt freundlich, aber bestimmt: „Wir werden hier bleiben und die Bauarbeiten unter Einsatz unseres Lebens verhindern.“ So sachlich der Tonfall, so stark die Worte. Und um so schwieriger scheint es zu sein, einen Kompromiß zu finden. Der Londoner Rabbiner fordert gar die möglichst vollständige Wiederherstellung des Friedhofs, eine radikale Forderung, die nur erfüllt werden könnte, wenn der Hamburger Senat sich über geltende Gesetze hinwegsetzte, da alle Genehmigungsverfahren abgeschlossen sind. Hamburgs Politiker fühlen sich jedoch nicht zuständig. Da aber inzwischen 34 US-amerikanische Kongreßabgeordnete bei Bundeskanzler Kohl protestierten, wird auch Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) die politische Dimension des Konflikts nicht mehr durch einen Verweis auf die eindeutige Rechtslage abbügeln können. Eine Strafanzeige wegen Grabschändung, die der Zürcher Rechtsanwalt Berysz Rosenberg am Mittwoch bei der Hamburger Staatsanwaltschaft stellte, ist der letzte juristische, aber vermutlich aussichtslose Ausweg für die Strenggläubigen, den Bau zu stoppen.

Stunk um das 300 Millionen Mark schwere Bauprojekt gab es, seit die Investorengruppe Büll & Liedtke das Hertie-Gelände und umliegende Grundstücke 1989 mit der Absicht kaufte, um dort einen Geschäfts- und Wohnhauskomplex zu errichten. In dem von kommunaler Umstrukturierung stark geschüttelten und nicht gerade wohlhabenden Ottensen gingen die Meinungen der Anwohner weit auseinander. Kleine Geschäftsleute fürchteten um ihre Existenz, andere erhoffen sich von dem „Karree“ Umsätze durch die gutbetuchte Kundschaft aus dem benachbarten feinen Blankenese. Die Anwohner- Initiative aber konnte die Genehmigungsverfahren weder mit juristischen Mitteln noch mit Nachbarschaftsfeiern aufhalten. Ein Widerspruch eines Nachbarn liegt dem Bezirksamt derzeit noch vor, doch Bezirksamtsleiter Hanspeter Strenge hält es für eine Formsache, ihn auszuräumen.

Die Altonaer Jüdin Jardenna H. schaut sich an diesem Morgen vor der Baustelle um und spricht mit den angereisten Demonstranten. Seit 1963 lebt sie hier, aber jetzt habe sie erst erfahren, daß hier einmal ein jüdischer Friedhof war. Sie sei wahrhaftig nicht begeistert von dem geplanten Karree, aber die Auftritte der Orthodoxen seien ihr etwas unangenehm und diese inständigen religiösen Gefühle fast fremd.