SED-Mitglieder sollen sich stellen

■ Bündnis 90 fordert Neubewertung der Stasi/ »Nicht die Stasi war die Krake, sondern die SED«

Berlin. Der Berliner Politik steht eine neue Runde in der Debatte um die DDR-Vergangenheit bevor. Die Bescheide der Gauck-Behörde über Stasi-Kontakte der Berliner Abgeordneten sind noch unter Verschluß, da plädiert der Landesverband von Bündnis 90 für eine Neubewertung der Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). »Nicht die Stasi war die Krake — die Krake war die SED«, heißt es in einem jetzt gefaßten Beschluß des Geschäftsführenden Ausschusses (GA) des Bündnis 90.

Der GA, der beim Bündnis die Funktion des Parteivorstandes wahrnimmt, formuliert eine klare Position. »Ursache und Zentrum des Übels« sei die Staatspartei gewesen. Konzentriere man sich allein auf die Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi, lenke dies ab von den »Befehlsgebern in der SED-Hierarchie«. Jedes ehemalige SED-Mitglied und jedes SED/PDS-Mitglied müsse sich »seiner besonderen Schuld gegenüber der DDR-Gesellschaft« stellen.

»Nur durch ihre Mitglieder« habe die SED »alle Bereiche des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft dirigieren und kontrollieren« können. Nicht nur von der Stasi, sondern auch »in den anderen Bereichen dieses SED-Systems« seien »Berichte geschrieben und Akten angelegt« worden. Auch dort, so das Papier, »gab es Verantwortliche für Unterdrückung«, auch dort wurde »über Schicksale von Menschen entschieden«.

Dies entlasse die Stasi-Informanten nicht aus ihrer Verantwortung, entlaste sie aber »von der in diesen Wochen auf ihnen liegenden scheinbaren Alleinschuld«. Explizit stellt das Papier die SED-Mitgliedschaft auf eine Stufe mit der Spitzeltätigkeit für das MfS. Beides seien »besonders intensive Formen der Anpassung« gewesen.

Um gerecht zu bleiben, müßten sich jedoch alle ehemaligen DDR- Bürger fragen, »wo wir alle zuwenig unserem Gewissen gefolgt sind und wie unser aller Anteil am Funktionieren des Systems war«. Auch die Westdeutschen »sollen und müssen« sich nach Ansicht des Bündnis-GA in der Diskussion um Stasi und DDR- Vergangenheit zu Wort melden. »Ihnen sollte aber bewußt sein, daß sie nicht die besseren Menschen sind. Sie hatten nur das bessere System, das sie nicht zu dieser Art von Untertänigkeit verpflichtete.«

Die Stasi-Akten dürften »nicht wieder geschlossen werden«, mahnen die Bürgerbewegten. Sie warnen jedoch vor einer »Pauschalisierung« bei der Bewertung von »Schuld oder Nichtschuld« von Stasi-Mitarbeitern »und anderen Zuträgern«. Der GA- Beschluß enthält einen detaillierten Katalog von Fragen für die »Einzelfallprüfung«. Ob sich Spitzel »aus der MfS-Abhängigkeit selbst herausgewunden« hätten, müsse ebenso gefragt werden wie es von Belang sei, ob die Betreffenden heute ein »Unrechtsbewußtsein« hätten, ob ein »Bewußtseinswandel, Bruch und Neuanfang« stattgefunden habe. Diese und ähnliche Fragen, so die Autoren weiter, müßten natürlich auch an ehemalige SED-Mitglieder gerichtet werden.

Neuen Sprengstoff trägt das Papier auch in die gemeinsame Fraktion von AL und Bündnis 90 im Abgeordnetenhaus. Ein Gegenpapier, verfaßt von ehemaligen SED-Mitgliedern unter den Abgeordneten, ist bereits in Arbeit. hmt