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Aggressionen kann man auch wieder verlernen

■ In der Jugendstrafanstalt Plötzensee wird erstmals ein Anti-Aggressions-Training erprobt/ Übungen, bei denen man lernt, Kritik, Mißerfolg und Lob zu ertragen/ Das oberste Gebot unter den Teilnehmern lautet Vertraulichkeit/ Wer sich selbst nicht liebt, kann seinen Nächsten nicht lieben

Plötzensee. Wenn man mal von ihren Straftaten absieht, sitzen in der Jugendstrafanstalt Plötzensee 320 Söhne, Brüder, Freunde ein — oder: Stiefkinder, Heimkinder, Verwahrloste, Mißhandelte, sexuell Mißbrauchte —, junge Männer im Alter von 17 bis 22 Jahren also, von denen viele außer ihrem schwierigen Lebenslauf noch ein Merkmal gemeinsam haben: Sie sind »gehemmt aggressiv«. Und sie würden weniger Schaden anrichten, wenn sie ihrer Wut sofort Ausdruck geben würden, als zu warten, bis sich der angestaute Frust durch gewalttätige Ausbrüche entlädt.

Deshalb und weil die Zahl von Gewalttätern in der Strafanstalt stark zugenommen hat, gibt es seit Anfang des Jahres ein neuartiges Trainingsangebot. Unbürokratisch und schnell, ohne lange erbettelte Zuschüsse und ewig hin- und hergeschobene Anträge, verwirklichten der Anstaltsleiter Marius Fiedler und vier Psychologen binnen zwei Monaten ein anstaltseigenes Konzept. Das »Anti-Aggressions-Training« ist angelegt für sechs Häftlinge und vier Psychologen. Die Dauer beträgt vier Einzel- und neun Gruppensitzungen. Erreicht werden sollen Vertrauen und Selbstsicherheit mittels Übungen im Umgang mit anderen. Im Idealfall lernen die Teilnehmer, Kritik, Mißerfolg und besonders Lob zu ertragen. Außerdem sollen sie fähig werden, Körperspannungen spüren und in den Griff zu bekommen.

Das theoretische Konzept des Trainings basiert auf verhaltenstherapeutischen Erkenntnissen. Deshalb bilden Rollenspiele die Basis der Gruppensitzungen. Die Grundannahme lautet, daß aggressives Verhalten erlerntes Verhalten sei und somit auch wieder verlernt werden könne. Trainiert werden soll dafür ein anderer, direkter Umgang mit momentanem Ärger. »Schließlich«, so der Psychologe Jörg Abram, »ist in unserer Gesellschaft ein bestimmtes Verhalten nötig, um zu überleben. Man muß rechtzeitig seine eigenen Belange anmelden. Das soll trainert werden.« Lernen aus Erfahrungen heißt die Devise.

Das oberste Gebot der Gruppe lautet Vertraulichkeit. Viele der anderen Anstaltsinsassen sind natürlich neugierig auf das, was die Teilnehmer des Programms jeden Dienstag nachmittag, ausgestattet mit einer Decke, hundert Minuten lang erleben. Aber niemand aus der ersten »Pilot«-Gruppe verrät ihnen etwas von den Sitzungen, alle Beteiligten halten dicht. Das steigert unter den Inhaftierten natürlich das Interesse an dem Training. Die Warteliste von weiteren Interessenten am Training ist lang.

Training auch für nur kurz Inhaftierte möglich

»Wir haben gleich in der ersten Sitzung ungewöhnlich konstruktiv diskutiert und gemeinsam Regeln aufgestellt«, sagt Psychologe Mohamed Fromke-Akkad zur Erläuterung des Konzepts. »Für alle gilt: gut zuhören, nicht durcheinander reden, diszipliniert sein und nichts aus der Gruppe hinaustragen, was in den Sitzungen besprochen wurde.« Die Häftlinge halten sich daran, umweht sie doch als »Auserwählte« das »Flair des Besonderen«. Diese allgemeinen Regeln bilden das Korsett der Sitzungen. Jede von ihnen hat ein bestimmtes Thema. Wenn es zum Beispiel um den Umgang mit Fremden und Außenseitern geht, soll dabei die Wahrnehmung verändert werden.

Durch Fragen aus der Gruppe, etwa »Wieso reagierst du so, weshalb empfindest du dies als feindselig?«, sollen die Betroffenen merken, daß sie in ihrer Wahrnehmung auswählen und interpretieren, aber daß sie dies unterschiedlich tun können.

»Das Wie ihrer Wahrnehmung hat mit ihrer eigentlich verängstigten Persönlichkeit zu tun«, so Anstaltsleiter Fiedler. Doch kann nicht der Anspruch im Mittelpunkt stehen, tiefe persönliche Defekte zu therapieren. Dies ist nur in längerfristigen Einzelgesprächen möglich, die unabhängig vom Anti-Aggressions- Training weitergehen. Das neue Programm dagegen umfaßt ganz bewußt nur einen kurzen Zeitraum, »damit auch diejenigen daran teilnehmen können, die vorübergehend inhaftiert sind. Das betrifft vor allem unsere rund 160 Untersuchungshäftlinge«. Fromke-Akkad ist außerdem der Meinung, daß eine zu lange Zeitspanne ermüdend auf die konsumgewöhnten Insassen wirke. »Die Erwartungen an uns Trainer sind sehr hoch. Zudem müssen wir gegen Sat 1 und RTL ankämpfen«.

Kein Gefühl für sich selbst und das Opfer

Der Einstellung der jungen Männer entspricht auch, mindestens 50 Minuten pro Sitzung zu »handeln«. Die »die verbale Ebene« sei »etwas für Mittelschichtler«, erläutert Abram. Also gibt es jede Sitzung außer den Rollenspielen ein 30 Minuten dauerndes Ent- und Anspannungstraining. Denn gerade Gewalttäter merken oft ihren körperlichen Spannungsaufbau nicht. Irgendwann ist dieser so groß, daß er sich nur noch mit einem »Schlag ins Gesicht« des Gegenübers entladen kann.

Durch diese Übung sollen die Teilnehmer, die auf einer Decke auf dem Boden liegen, fähig werden, die eigene Körperlichkeit kennen- und einschätzen zu lernen. Die Täter-Opfer-Beziehung, die im Strafvollzug immer stärker gewichtet wird, spielt beim Anti-Aggressions-Training in Plötzensee keine Rolle. »Wir gehen davon aus, daß die Insassen keine Gefühle für das Opfer entwickeln können, solange sie noch kein Gefühl für sich selbst haben«, erläutert Fiedler.

Das Ziel des Trainings — nämlich zu lernen, sich selbst zu kennen und zu mögen — könne sogar biblisch ausgedrückt werden: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«.

Leider fehlen bislang die erforderlichen Kapazitäten, um jeden willigen Häftling in den Genuß des Trainings kommen zu lassen: »Was unsere vier Psychologen hier tun, ist sozusagen ihre Kür. Neben dem Anti- Aggressions-Training haben sie weiterhin ihre Pflicht zu erledigen.« Bislang sind jedenfalls keine finanziellen Mittel von seiten des Senats in Sicht. Damit bleibt nur abzuwarten, welche Ergebnisse die Begleitstudie liefern wird. Vielleicht ist in der Folge mit einer Unterstützung zu rechnen. Sonja Striegl

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