Erfurts ärztliche Austreibung nach Westen

Die dubiosen Vorwürfe gegen das Klinikpersonal der Medizinischen Akademie in der thüringischen Landeshauptstadt/ Denunziation sind Tür und Tor geöffnet/ Drastische Mittelkürzungen angekündigt/ Es bleibt die Umsiedlung gen Westen  ■ Aus Erfurt Henning Pawel

Mit geducktem Schädel, in Erwartung des nächsten Hammers, laufen die Mitarbeiter der Medizinischen Akademie Erfurt, MAE, durchs Gelände. Die einst bedeutendste Ausbildungsstätte für Ärzte und mittleres medizinisches Personal in Thüringen steht seit Monaten unter einem Trommelfeuer von Enthüllungen, Evaluierungen und sozialen Ängsten.

Jede der Nachrichten läßt freilich zusammenzucken. Wurden wirklich Frühgeburten unter tausend Gramm in der Erfurter Frauenklinik in Eimern ersäuft? Wurde wirklich ein noch lebender Patient aus Suhl zur Berliner Charité transportiert und dort als Organspender benutzt? Gab es tatsächlich allerorts Ärzte, die ihre Schweigepflicht brachen und der Stasi mit ihrem Patientenwissen zu Willen waren?

Hatte es der vom Leben ohnehin schwer heimgesuchte Chef der Erfurter Kinderklinik, Prof.Dr.Menzel, seine 16jährige Tochter fiel einem Sittlichkeitsverbrechen zum Opfer, denn wirklich verdient, so behandelt zu werden? Genügte die Amtsenthebung des zwar international anerkannten, aber eben altlastigen Wissenschaftlers nicht? Die Rundschreiben seiner Oberärzte an zahlreiche Universitäten und Hochschulen Deutschlands, um eine Neueinstellung Menzels zu verhindern, wird das nun der neue Stil im Umgang miteinander?

Die meisten der Horrornachrichten stellen sich in aller Regel als Seifenblasen heraus. Doch die Schocks und die Ängste bei allen Angehörigen des medizinischen Bereichs in Erfurt sitzen tief. Ein Fels in der Brandung — Thüringens beachtlicher Gesundheits- und Sozialminister Dr.Hans Henning Axthelm (CDU). Er wendet sich gegen jede Art von Vorverurteilung und stellte sich vor jene Ärzte, die ohne Beweise zur Strecke gebracht werden sollten. Nun hat es den Anschein, daß auf den Minister wegen solcher Courage auch das Feuer eröffnet worden ist.

Entsprechend sind natürlich auch die Folgen beim gemeinen Mann. Schon entdeckt Gustav Hempel aus Apolda, daß nicht der Doppelkorn, sondern ein Satan in Weiß seine Leber ruinierte. Auch Felicitas Birkenbach weiß nun genau, warum ihre Krampfadern, trotz Operation, schon wieder durch die Strumpfhose schimmern. Die Stasi wollte es so.

Angst und Verunsicherung an den einst so hochgerühmten medizinischen Einrichtungen in der Landeshauptstadt.

Chirurgen fürchten Denunziationen. „Jeder von uns hat mal einen Pfleger oder eine Schwesternschülerin gerüffelt“, sagt ein Klinikchef. „Nun die Revanche.“ Sternstunden für rachsüchtige Subalterne. Jedes entfernte Stück Menschenfleisch, Bein oder Galle muß grundsätzlich dem Pathologen zugeführt werden. Den Weg dorthin legt das Operationsgut in einem Behälter mit konservierender Flüssigkeit zurück.

Auch jene bewußten Frühgeburten unter 1.000 Gramm und nicht lebensfähig. So wie sie vorgeblich satanisch ertränkt wurden, kann das morgen schon einem Chirurgen bezüglich des amputierten und eingelegten Unterschenkels, Lungenflügels oder Auges angelastet werden. Daß jene „schreckliche“ Ost-Frauenklinik die erste in ganz Deutschland war, die schon in den frühen siebziger Jahren zur Neugeborenenbetreuung, speziell für Frühgeburten, eine neonatologische Abteilung einrichtete, wird nirgends auch nur mit einem Wort erwähnt.

Daß ausnahmslos alle Ärzte sowie das gesamte medizinische Personal unter oft unglaublichen Bedingungen großartige Leistungen erbrachten, paßt ebensowenig ins Bild. Eine völlig auf den Kopf gestellte Moral. Jene Ärzte, die es ablehnten, ihre Patienten im Osten im Stich zu lassen und im Lande blieben, geraten zunehmend ins Abseits. Die anderen, oft DDR-Reisekader, die einfach wegblieben, sehen sich dagegen voll bestätigt.

Gespenstisch auch die Evaluierungsverfahren an der MAE, die noch immer nicht abgeschlossen sind. Erst in den nächsten Wochen erwarten die Delinquenten, nach über einem Jahr unsäglicher psychischer und physischer Belastung, ihr Urteil.

Die fachliche Überprüfung wurde ausschließlich einem guten Dutzend West-Professoren übertragen. Vier Gutachten haben sie über jeden der habilitierten Mediziner und Oberärzte zu erstellen. Die Grundlage dafür sind Daten, die jene Delinquenten selbst in siebenfacher Ausfertigung zu liefern hatten. Kafkaeske Situationen. Eine Kette von anonymen Personen, an deren Ende jene Gutachter stehen, erhalten Einsicht und Zugriff auf intimste Daten und ziehen daraus Schlußfolgerungen über die zukünftige Existenz von Menschen, deren Manko darin besteht, Arzt im Osten gewesen zu sein. Parallel zur fachlichen Überprüfung die personelle. „Gegenreformation in Thüringen“, flüstern die Erfurter Mediziner mit Galgenhumor. An die Spitze jener „inneren“ Evaluierungskommission, wahrscheinlich weil die unsterbliche Seele „innen“ sitzt, wurde der katholische Moraltheologe und Lehrer am Erfurter Priesterseminar, Prof.Dr.Ernst, berufen. Nicht die geringsten Bedenken ob seiner persönlichen Eignung beim Gottesmann. Er sieht sich sehr wohl berufen, über atheistische und protestantische Ärzte zu Gericht zu sitzen, eine Prozedur also, die schon seit Galilei ins Gerede gekommen war.

Sein heiliger Eifer gilt besonders der Eliminierung von einstigen SED- Ärzten im Hochschuldienst. Der Unterschied zwischen Faschismus und SED-Staat will dem Moraltheologen auch nicht so recht in den Schädel. Beides, so sein Credo, waren totalitäre Regime. Sechs Millionen vergaster Juden, Roma und Sinti lassen grüßen. Sie würden dem Moraltheologen den Unterschied sicher gern erklären.

Am letzten Wochenende nun die Ankündigung der nächsten Heimsuchung für die MAE:

— Die Budgetreduzierung um 30 Prozent des ohnehin viel zu engen Struktur- und Stellenplanes für das größte Thüringer Klinikum und damit Entlassungen von 1.700 Beschäftigten. Die ÖTV hat es ans Licht gebracht, das Ministerium für Wissenschaft und Kunst sofort dementiert. Entlassungen seien nicht geplant. Die Reduzierung der Mittel freilich dementierte der Pressesprecher nicht. Die aber bedeutet das Aus für 800 Mitarbeiter des Hochschulkomplexes und 900 unmittelbar im Pflegebereich Beschäftigter.

Einsparungen, die, so Ministeriumssprecher Panse, ohne Konsequenz für die Arbeitnehmer sein sollen.

Die Diätköchin Astrid W. riecht den Braten schon. „Wenn bei uns in der Küche die Suppe nicht reicht, kommt auch noch ein Eimer Wasser in den Kessel. Noch mehr Arbeit für noch weniger Geld.“

Auch der Vorsitzende des Personalrats der Medizinischen Akademie, Dr.Peter Ansorg, zeigt sich besorgt. „Die 30 Prozent Reduzierung werden, wenn sie greifen, verheerende Folgen haben. Für die gesamte Region. Medizinisch, kulturell, wirtschaftlich.“

Die Ärzte und Schwestern der Erfurter Medizinischen Akademie standen an der Spitze derer, die nach Erneuerung im Land DDR riefen. Nun hat sie das Echo ihrer Rufe eingeholt. Die 89er Courage und ihre Moral, im Land zu bleiben, geraten zunehmend zum Bumerang. Immer mehr reisen ab in Richtung Westen. Die Patienten aber bleiben. Zum eigenen, oft schlimmen Leiden gesellt sich nun der Schmerz um den verlorenen Arzt, die Schwester, denen man ein Leben lang vertrauen konnte. Auch persönlich befinden sich die Patienten auf dem besten Wege, aus der zweiten Klasse deutsch-medizinischer Versorgung in die dritte abzusteigen.

Schwestern, Ärzte, das gesamte Personal der MAE wollen in den kommenden Wochen in Massen auf die Straße gehen. Und, so ist zu fürchten, bald danach in Massen nach Westen auswandern, da kaum Aussicht besteht, der neuen Unfähigkeit und Anmaßung erfolgreich zu begegnen.