: Tage des Niedergangs
■ Geschichten aus galizischen Zimtläden über Mannequins und devote Herren mit Hut Eine Ausstellung im Kunstamt Tiergarten zeigt Leben und Werk von Bruno Schulz
An solchen Tagen geht der Messias bis an den Rand des Horizonts und blickt von dort auf die Erde herab. Und wenn er sie mit ihrem Blau so weiß, still und nachdenklich sieht, kann es passieren, daß in seinen Augen die Grenze verfließt, die himmlischen Gürtel der Wolken breiten sich als Teppich unter seine Füße, so daß er, ohne selber zu wissen, was er tut, auf die Erde herabsteigt. Sogar die Erde in ihrer Versunkenheit bemerkt gar nicht den, der auf ihre Wege herabgestiegen ist, die Menschen erwachen aus ihren Nachmittagsschläfchen und werden sich an gar nichts erinnern.«
Das gänzlich unbemerkte Erscheinen des Messias geschieht, nicht einmal ihm selbst bewußt, nur durch eine beiläufige Bewegung, ein Verfließen der Grenzen, ohne Absicht, ohne Ursache, ohne Folgen. Es ist nur eine Episode im Lauf der Welt, in der sich stets alles verwandelt und sich dennoch nichts verändert. So verhält es sich mit der Welt, und so verhält es sich mit den Schulzschen Texten. Sie fließen in immer gleichbleibender Intensität, in immer gleichem Tempo und Rhythmus dahin, durch nichts strukturiert als den Ablauf der Zeit und die Wiederholung der Tages- und Jahreszeiten.
Als Schulz mit einundvierzig Jahren, 1933, seinen ersten Band mit Erzählungen Die Zimtläden veröffentlicht, wird er schnell berühmt und in die polnischen Literaten- und Künstlerkreise aufgenommen. Zusammen mit Witold Gombrowicz und Stanislas Ignacy Witkiewicz, genannt Witcacy, sieht er sich an vorderster Front der Bewegung, die man den polnischen Surrealismus nennt (und die sich in Tadeusz Kantors Theaterinszenierungen bis zu dessen Tod im vorletzten Jahr fortgesetzt hat). Im Austausch mit Gombrowicz und Witkiewicz entwickelt Schulz eine eigene Theorie des Überwirklichen, die er in dem kurzen manifestartigen Text Das Mythisieren der Wirklichkeit (1936) zusammengefaßt hat. Er schreibt zahlreiche Buchbesprechungen und Essays für die Kunstzeitschrift 'Skamander‘ und andere Organe und bearbeitet die, von seiner Verlobten Józefina Szelinska vorgenommene, Übersetzung von Kafkas Prozeß ins Polnische, die ebenfalls 1936 unter seinem Namen und mit einem von ihm verfaßten Vorwort erscheint (übrigens wurde die Verlobung mit Szelinska wieder aufgelöst!). In dasselbe Jahr fällt auch die Veröffentlichung seines zweiten Erzählungsbandes Das Sanatorium zur Todesanzeige.
Das obige Zitat stammt aus einer Erzählung mit dem Titel Die geniale Epoche, einem Teil des unvollendet gebliebenen Romanprojekts Der Messias. Schulz, von dem Gombrowicz sagte, er nähere sich der Kunst »wie einem See, mit der Absicht, sich hineinzustürzen«, gelang es nicht, den Roman, an dem er seit ungefähr 1934 arbeitete, fertig zu schreiben. Das Manuskript ist, wie fast sein gesamter Nachlaß, verschollen.
Es ist möglich, daß seine Schreibschwierigkeiten, über die er in Briefen immer wieder klagt, nicht nur auf Überlastung durch seinen Brotberuf — Schulz gab Zeichenunterricht an einem Gymnasium — und auch nicht auf die Irritation durch den plötzlichen Ruhm zurückzuführen sind, sondern daß sie eng mit seiner Schreibtechnik zusammenhängen. Schulz scheint sozusagen völlig »planlos« zu schreiben, in einem Erzählatemzug, indem sich die Lust an einer höchst kunstfertigen Handhabung der Sprache und der Spaß an grotesken Einfällen gegenseitig vorantreiben. Einmal an ein Ende gekommen, ist ein Wiederanknüpfen schwer möglich. So gibt es immer neue meisterhafte Anfänge, immer neue Geschichten.
Schulz verbrachte fast sein ganzes Leben in der galizischen Kleinstadt Drohobycz. Drohobycz, das heute zur Ukraine gehört, wurde, nachdem es 1939 bis 41 unter sowjetischer Herrschaft stand, von den Deutschen besetzt. Für die mehr als sechzig Prozent Juden unter seinen Einwohnern wurde ein Getto errichtet, in dem Schulz im November 1942 von einem Gestapo-Mann auf der Straße erschossen wurde.
Drohobycz ist der Ort, an dem sich alle Schulzschen Geschichten abspielen. Schulz Figuren sind alle — bis auf Adela — ganz und gar der sie umgebenden Welt ausgeliefert: Zimmer werden hier zu Landschaften, Häuser sind Organismen mit ungezählten Zimmern und einem Labyrinth aus Gängen und Höfen, und die Stadt entspricht einem Kosmos.
»Im gleichen Augenblick, da mein Vater das Wort ,Mannequin‘ aussprach, schaute Adela auf ihre Armbanduhr und verständigte sich darauf mit Polda durch einen Blick. Dann rückte sie den Stuhl um eine Spanne vor, hob den Saum ihres Kleides, streckte langsam den in schwarze Seide gehüllten Fuß aus und richtete ihn wie ein züngelndes Schlangenmaul auf.«
Adela hat eine Vorfahrin. Sie heißt Undula und ist die Heldin und Herrin in dem Graphikzyklus Das Buch vom Götzendienst, den Schulz 1920 bis 24 ausführte. Es handelt sich um rund fünfundzwanzig verschiedene Blätter, die zum Teil in verschiedenen Fassungen existieren und von Schulz in Mappen zusammengestellt und an Freunde und Bekannte verschenkt wurden. In Technik, Ausführung und Inhalt sind sie äußerst delikat. Die Technik ist das aufwendige Cliché-Verre-Verfahren, eine Kreuzung aus Radierung — auf einer Glasplatte — und fotomechanischer Vervielfältigung. Da er die Herstellung der Abzüge allein nicht vornehmen konnte, brauchte Schulz Hilfe. In der Einleitung des Götzenbuchs, das er herausgegeben hat, schreibt der Schulz-Kenner, Sammler seines Nachlasses und Verbreiter seines Werkes, Jerzy Ficowski: »Da er seinen Helfern verheimlichen wollte, daß die Graphiken des Buchs seiner eigenen Phantasie entsprungen waren, sagte er den Knaben, es seien Illustrationen für den Roman Venus im Pelz von Sacher- Masoch, einem zweitrangigen österreichischen Schriftsteller, von dessen Namen man den Begriff Masochismus ableitet, einer fremdartigen Veranlagung, die Schulz selber nicht fremd war.«
Im Mittelpunkt der Blätter steht immer das Weib: »Undula, das ewige Ideal«. Sie übt keine physische Gewalt aus, obwohl manchmal eine Peitsche oder ein Teppichklopfer in ihren Händen ruht. Sie zeigt sich mal allein, mal im Kreis ihrer Geschlechtsgenossinen — immer gänzlich teilnahmslos und unbeeindruckt von dem, was um sie herum vorgeht. Ihr nähern sich demütige Männer: Allein — mit selbstporträthaften Zügen, oder in ganzen Horden kommen sie angekrochen, zu Gnomen mit kleinen Körpern und großen Köpfen mutiert oder halb in Tiere verwandelt. Sie starren auf Undulas Schuhe und ihre langen schlanken Beine. Ihr Körper ist ansonsten mädchenhaft, Üppigkeit der Formen findet sich eher im sie umgebenden Mobiliar.
Ihre Unbeteiligheit ist ihre größte Grausamkeit, aber diese ist nur gespielt: in Wahrheit ist sie zutiefst in ihre Sache verwickelt. Nicht nur, weil sie sich willig zur Schau stellt und es sichtlich genießt, das Objekt aller unstillbaren Begierden zu sein, sondern weil auch sie nur ein Geschöpf Schulzscher Phantasie ist. Letztendlich ist es die Unterwerfungsphantasie selbst, der sich Schulz hier unterwirft.
Als Betrachter wirft man einen Blick auf das Verbotene durch den Schleier virtuoser Darstellung. Das beherrschende formale Element dieser Graphiken ist eine schwülstige, ausufernde Ornamentik, die zwischen der elegant geschwungenen Silhouette eines hell aus dem Dunkel glänzenden Frauenbeins und den Voluten und Rüschen, mit denen die Liegestatt Undulas geziert ist, keinen Unterschied macht. Die Szenen spielen sich im Vordergrund wie auf einer Bühne ab, sie sind stark untersichtig, aus der Perspektive desjenigen gesehen, der die »Mannequins«, die Marionetten gleichzeitig tanzen läßt und dabei zusieht.
Das Buch vom Götzendienst ist der originellste Teil des graphischen Werks von Bruno Schulz. In den dreißiger Jahren, als sich seine Kreativität auf die Literatur verlagert hatte, entstanden die Illustrationen zu Das Sanatorium zur Todesanzeige. Die Zeichnungen sind moderner, klarer, die Figuren gedrungener, die überquellende Virtuosität ist zugunsten einer gewollten Disproportioniertheit aufgegeben.
Ins Jahr 1992 fällt der 100. Geburtstag von Bruno Schulz und sein 50. Todestag. Die Ausstellung des graphischen Werks im Kunstamt Tiergarten, die später an das Stadtmuseum München weitergeht, ist nur ein Teil der großen Retrospektive, die vom Literaturmuseum Warschau, in dem die Hinterlassenschaft Schulz' aufbewahrt wird, für den Herbst in Vorbereitung ist. Claudia Sedlarz
Ausstellung im Kunstamt Tiergarten, Obere Galerie, Lützowplatz 9, bis 5.4., di.-sa. 10-18 Uhr. Katalog für 20 DM
Bücher von Bruno Schulz:
Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. Übers. von Josef Hahn. Nachwort von Andrzej Wirth und Francois Bondy. F/M, 1981.
Die Mannequins und andere Erzählungen. Hg. von Herzy Jarzebski. Übers. von Josef Hahn. F/M, 1987
Das Götzenbuch. Zum Druck vorbereitet und mit einfachen Worten versehen von Jerzy Ficowski. Warschau o.J.
Das Theater am Ufer, Tempelhofer Ufer 10, führt vom 12.-22. März und 9.-12. April ein Stück Die Zimtläden nach Bruno Schulz auf.
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