: Vulgärhistorismus vieler Gazetten-betr.: "Genschman und die Linke", Kommentar von Erich Rathfelder, taz vom 12.3.92
betr.: „Genschman und die Linke“, Kommentar von Erich Rathfelder, taz vom 12.3.92
Es stimmt, daß die Linke über die Rolle Deutschlands neu nachdenken sollte. Allerdings sind die geschilderten Verhältnisse in und um Ex-Jugoslawien verfälscht bis falsch. Auch wenn in noch so vielen Zeitungen immer wieder vorgebetet wird, daß die Fronten für und wider die Anerkennung der jugoslawischen Spaltprodukte so verlaufen wie die Fronten im Zweiten Weltkrieg: es stimmt einfach nicht.
Slowenien existierte im Zweiten Weltkrieg nicht. Die Italiener annektierten zu den slowenischsprachigen Gebieten, die sie nach dem Ersten Weltkrieg der Habsburgermonarchie entrissen hatten, weitere Gebiete einschließlich Ljubljana. Das größte Stück mit Maribor erhielten deutsche Besatzungstruppen und die Ungarn annektierten Ostslowenien. Unterstellt man den Vulgärhistorismus vieler Gazetten, so hatte Slowenien wohl kaum Unterstützung für seinen Unabhängigkeitskurs aus Deutschland, Italien und Ungarn zu erwarten.
Der „Unabhängige Staat Kroatien“ war nicht unabhängig und zweifelsohne ein Klientelstaat der Nazis, und er mußte Gebietsabtretungen an Italien und Ungarn hinnehmen. Also auch hier geht die Gleichung nicht so einfach auf. Die bosnischen Muslime wurden von den kroatischen Ustaschas nicht wie ihre serbischen Nachbarn verfolgt, doch hatten sie weder einen Staat noch besondere Rechte. Die im Kommentar verschwiegenen Makedonen erlebten unter italienischer und bulgarischer Besetzung wohl kaum besonders glückliche Zeiten, gleichwohl wurde ihr Staat bislang nur von Bulgarien und der Türkei anerkannt.
Die Briten und die Franzosen habnen ihr jeweiliges Imperium verloren und die Amerikaner haben das flaue Gefühl, daß ihnen diese Erfahrung noch bevorsteht. Deshalb ihr Verständnis für die Serben, die gerade ihr Imperium verlieren. Die ehemalige Waffenbrüderschaft spielt dabei wohl nicht die Hauptrolle, sonst wären Frankreich und Großbritanien nicht der Bonner Anerkennung Kroatiens gefolgt. Auch Rußland hat Kroatien anerkannt, obwohl es wie Serbien sein Reich jetzt erst verloren hat.
Mit dem Zweiten Weltkrieg hat die Rolle Deutschlands in dieser Chose aber doch zu tun, denn der Revisionismus war in Westdeutschland Staatsideologie. Mit dem Ziel der deutschen Einheit vor Augen wollte man die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs ändern und wider Erwarten gelang es. Die Westverschiebung Polens mußte Deutschland anerkennen, also kein totaler Triumph des Revisionismus.
Vor diesem Hintergrund fiel es Deutschland leichter als den Siegermächten, neue Verhältnisse auf dem Balkan anzuerkennen. Irgendwelche Frontlinien aus dem Zweiten Weltkrieg sind dabei unbedeutend, wie das Beispiel Slowenien belegt. In einigen Jahren wird sich in Eurasien eine neue Ordnung einstellen. Nicht nur die Linke in Deutschland muß sich dann folgende Fragen stellen: Soll Deutschland als Profiteur der neuen noch-nationalstaatlichen Ordnung für ihre Bewahrung eintreten oder weiterhin revisionistische Ideen wie die Bildung eines supranationalen europäischen oder eurasischen Staates und dessen Regionalisierung mit folglicher Schwächung der Nationalstaaten eintreten? Persönlich plädiere ich für einen weiteren Revisionismus, um auf Herausforderungen wie Migrationen, Umweltprobleme und religiöses Wiedererwachen flexibler zu reagieren. Andres Schorr, Wiesbach
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