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Auf der Suche nach dem verlorenen Staat

Die AlbanerInnen wählen morgen — in einem zerrütteten Staat, der sich in kürzester Zeit von kommunistischer Machtkonzentration zur alltäglichen Anarchie gewandelt hat/ Die demokratische Opposition sieht ihren Sieg voraus  ■ Aus Tirana Christian Semler

Zwei Tage vor den Wahlen und angesichts eines fast sicheren Sieges der demokratischen Oppositionsparteien steht Albanien vor einer paradoxen Situation. Es wird ein neues Parlament, eine neue Regierung geben, aber die Staatsgewalt hat sich weitgehend in Luft aufgelöst. „Wir haben“, sagt Bashkin Sala, Sprecher der Demokratischen Partei, „mit einem raschen Übergang von der Diktatur zur Demokratie gerechnet. Was aber nach dem Wahlsieg der Kommunisten im letzten Jahr geschah, war der Übergang von der vollkommenen Machtkonzentration zur vollkommenen Anarchie.“

Wer dieser Tage das Stadtzentrum Tiranas durchstreift, wird Schritt für Schritt mit den Auswirkungen dieser „Staatslosigkeit“ konfrontiert. Die Stadt ist vormittags schwarz vor Menschen im arbeitsfähigen Alter. Nur eine Handvoll Fabriken, darunter das E-Werk, die Brotfabriken und Teile des Traktorenwerks, das einst den stolzen Namen „Enver Hoxha“ trug, haben die Produktion noch nicht eingestellt. Die Werktätigen flanieren, ausgestattet mit 80 Prozent ihres Monatslohns, was dem Gegenwert von zehn Mark entspricht und nicht einmal das schiere Überleben sichert. Vor dem Skanderbeg- Denkmal im Herzen der Hauptstadt werden die Rubbellose feilgeboten. Hunderte von Soldaten versuchen ihr Glück oder schauen wenigstens zu. Sie haben — Dienst hin und her — die Kasernen verlassen und kein Feldwebel hat es gewagt, sie daran zu hindern. In den Parks an der Prachtmeile zwischen der Universität und dem Skanderbeg-Platz lagern in der Märzsonne Oberschüler und Studenten. Die Präsenz in den Schulklassen liegt selbst bei wohlwollenden Schätzungen unter 50 Prozent.

Diesem eher erfreulichen Phänomen steht der fast völlige Zusammenbruch von „Sicherheit und Ordnung“ gegenüber. Geplünderte, notdürftig mit Brettern gesicherte Auslagen in jedem zweiten Geschäft zeugen von der grassierenden Bandenkriminalität. Trotz kürzlicher Lohnerhöhungen rührt die Polizei keinen Finger. Sie traf auch zu spät ein, als vor drei Wochen an hellichtem Tag die landwirtschaftliche Fachschule von bewaffneten Banditen angegriffen wurde. Die Täter schleppten alles weg, einschließlich der Tische und Stühle, da für Brennholz gute Preise zu erzielen sind. Die Verwüstungen an Gebäuden, aus denen schechterdings nichts zu holen ist, haben solche Formen angenommen, daß viele Einwohner sie als das Werk von ehemaligen Agenten der Geheimpolizei ansehen. Sigurimi-Agenten sollen es auch sein, die freigiebig Waffen unters Volk bringen, um das Chaos zu verschärfen. Der ausländische Besucher wird derart mit warnenden Ratschlägen überhäuft, daß er, nähme er sie sich zu Herzen, das gut verrammelte Hotelzimmer nicht verließe.

Panikmache und Euphorie

Wie schon in Polen im Krisenjahr 1981 wird jetzt auch in Tirana über die Frage gestritten, ob hinter der allgemeinen Zerrüttung der Lebensverhältnisse eine „lenkende Hand“ zu finden sei. Tatsächlich hat die Äußerung des damaligen Ministerpräsidenten Bufi, die Lebensmittel reichten nur noch sechs Tage, im Dezember zum Massensturm auf die Depots in Tirana und anderswo geführt. Aber gibt es eine Kraft, stark und organisiert genug, um die Demokratie zu ersticken und den „Retter der Nation“ zu spielen?

Die zur „Sozialistischen Partei“ gewendeten Kommunisten weisen es weit von sich, aus der Panikmache Profit ziehen zu wollen. Sie haben Tirana wie die meisten anderen Großstädte aufgegeben und konzentrieren sich auf die ländlichen Gebiete vor allem des Südens und der Grenzgebiete zu Mazedonien und dem Kosovo, wo ihre traditionellen Hochburgen liegen. Hier, in den zum Teil schwer erreichbaren Dörfern, fällt ihre Propaganda, die Demokratische Partei werde das gerade frisch verteilte Land wieder einziehen und den alten Großgrundbesitzern übergeben, auf fruchtbaren Boden. Aber: Wie auch immer das Ergebnis ausfallen mag, die Sozialisten werden sich an die demokratischen Spielregeln halten. Das versichert wenigstens die Parteileitung in Tirana, die nach wie vor in einem von den Italienern errichteten Trutzbau ihr Hauptquartier hat.

Herrscht im Büro der Sozialisten düstere Feierlichkeit und Leere, so wuseln am Sitz der Demokratischen Partei Dutzende von Aktivisten und Funktionsträgern, begafft von Hunderten von Schaulustigen durcheinander. Computer neuester Bauart werden installiert, Leitungen verlegt, Organigramme aufgehängt, Kombiwagen beladen. Im Garten wird in einer Riesentonne irgendwelches Material verbrannt. Trotz beißender Rauchschwaden ist die Stimmung euphorisch. „Wir holen über 50 Prozent, auch auf dem Land hat es einen großen Stimmungsumschwung gegeben“, erklärt einer der Organisatoren, der die Karten sämtlicher Wahlkreise um sich versammelt hat. Auch Genc Polo, Abgeordneter und Mitglied der Parteileitung, teilt diesen Optimismus. Letztes Jahr habe die alte Machtelite über die örtliche Verwaltung, die Vorsitzenden der Produktionsgenossenschaften und die Geheimpolizei noch das Leben im Dorf kontrolliert. Jetzt, nach der Abschaffung all dieser Unterdrückungsinstanzen, gebe es nichts mehr, womit man die Leute einschüchtern könne.

Genc Polo sieht die Demokratische Partei als Sammelbecken ganz unterschiedlicher Kräfte, vereint nur durch strikten Antikommunismus und den Wunsch, eine Demokratie nach „westlichem“ Vorbild aufzubauen. Jetzt gelte es, zusammenzuhalten, aber nach einer Stabilisierung der Lage könne es zur Spaltung der Partei zwischen Sozialliberalen und Konservativen — ähnlich wie in der CSFR — kommen. Unruhen, ja die Gefahr eines Bürgekriegs sieht er nur für den Fall eines Wahlsiegs der Sozialisten. „Eine Wiederholung des Generalstreiks vom letzten Jahr ist dann das mindeste, was uns droht. Unsere Politik des Ausgleichs und der Versöhnung wäre dann zum Scheitern verurteilt.“

Was aber, wenn an Stelle der Angst bei der Bevölkerung längst Mutlosigkeit getreten ist? Politiker aus den beiden großen Lagern, dem der Sozialisten und der Demokratischen Partei, weisen auf Umfrageergebnisse hin, nach denen nicht mehr als 20 Prozent der Befragten Albanien verlassen wollten. Sie argumentieren mit der großen Bindung der Albaner an ihre Heimat und weisen — nüchterner — darauf hin, daß das Volk aus den „Ereignissen in Bari“ die richtigen Lehren gezogen habe. Aber Gespräche an jeder Straßenecke fördern ein anderes Ergebnis zutage. Mindestens ein Familienmitglied, so wird dem ausländischen Besucher vorgerechnet, muß im Ausland arbeiten, um die restliche Familie über Wasser zu halten. Im nahen griechischen Mazedonien wird in nicht einmal einem Monat ein albanischer Jahreslohn verdient — von der Bundesrepublik ganz zu schweigen. Die Aktionsprogramme aller Parteien stimmen darin überein, daß mit Hilfe ausländischer Kredite der Engpaß an Rohstoffen für die Produktion überwunden, die Verkehrsverbindungen wiederherstellt, die Bauern mit Produktionsmitteln versorgt werden müssen. Aber selbst dieses Sofortpogramm kann 1992 nicht mehr greifen, so daß Albanien weiterhin zu fast 100 Prozent auf die Nahrungsmittelhilfe der EG angewiesen bleibt. Wohin flüchten? Serbien, Mazedonien und Montenegro haben die Grenzen dichtgemacht, von der griechisch-albanischen Grenze häufen sich die Schreckensmeldungen von erschossenen oder malträtierten albanischen Flüchtlingen, von Racheaktionen der Albaner, vom Aufruf des griechischen Bischofs Sebastianos, die Dörfler des Epiros gegen die hereinbrechenden „albanischen Banditen“ zu bewaffnen. Die Flucht über die Berge wird zum lebensgefährlichen Unternehmen, zu dem es aber kaum Alternativen gibt.

Mutlosigkeit und Flucht

Ratlos und etwas beschämt steht in dieser Situation der Westler auf Besuch dem grenzenlosen Zutrauen gegenüber, das die albanischen Gesprächspartner in die Hilfsbereitschaft seiner Heimatnation setzen. Dieses Zutrauen ist von Unterwürfigkeit weit entfernt. „Wir wollen keine Almosen“, erklärt ein Aktivist der kleinen Sozialdemokratischen Partei, „gebt uns eine Überbrückungshilfe. Ihr werdet sehen, daß wir genauogut arbeiten können, daß wir genauso klug sein können wir ihr. Ihr seid es uns schuldig als große, zivilisierte Nation.“

Für Sali Berisha, den Volkstribun, den charismatischen „Führer“ der Demokratischen Partei, ist der 22.März der Schicksalstag im Leben der albanischen Nation. Vor 3.000 entfesselten Jugendlichen im Kongreßzentrum von Tirana setzt er den Sieg der Demokraten gleich mit einem neuen Selbstbewußtsein. Vom Schicksalstag spricht Ramiz Alia, jetzt parteiloser Präsident und der letzte der osteuropäischen „Heroen des Rückzugs“. So viele Beschwörungen stimmen vielleicht das Schicksal gnädig. Und mit dem Selbstbewußtsein wird auch der verloren geglaubte Staat sich wieder einfinden.

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