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Albanien sehnt sich nach Europa

Der Parteivorsitzende der siegesgewissen oppositionellen „Demokratischen Partei“ ruft zur Rückkehr „nach Europa, wohin Albanien gehört!“/ Die Sozialisten hoffen auf Versöhnung für „den langen Weg“/ Wahlgang mit Hindernissen  ■ Aus Tirana Christian Semler

Im Wahllokal 45 nahe der Innenstadt, einem Arme-Leute-Bezirk, geht — anders als beim Broteinkauf — alles hübsch der Reihe nach. Es ist neun Uhr, ein Zeitpunkt, zu dem vor der Wende die Wahlen bereits abgeschlossen waren. Damals hatten die Bürger ab 6 Uhr morgens zum „Falten“ zu erscheinen.

Ein altes Mütterchen, eine Analphabetin, wird in die Wahlkabine geleitet. Sie sagt dem Wahlhelfer, einem Sozialisten, daß sie für die Demokraten stimmen will. Der macht schicksalsergeben das Kreuz, beobachtet vom Kollegen der Demokratischen Partei und dem Gast aus Deutschland, der kurzfristig in die Rolle des internationalen Wahlbeobachters aufgestiegen ist. In manchen Wahllokalen gibt es nach Berichten von Beobachtern Unregelmäßigkeiten: Urnen sind nicht versiegelt, manche Wähler können sich nicht ausweisen.

Der Herr im dunklen Anzug, Mitglied des Wahlvorstands, gehört, wie nicht anders zu erwarten, der Sozialistischen Partei an. Das sind hier die feineren Leute. Genau in diesem Wahllokal hat Staatschef Ramiz Ali vor einem Jahr seine Stimme abgegeben. Seine Partei siegte haushoch, er selbst erlitt eine demütigende Niederlage. Diesmal scheint auch seiner Partei die gleiche Erfahrung bevorzustehen. „Wir Albaner müssen zusammenstehen“, sagt der sozialistische Wahlhelfer. Das ist nicht nur seine Meinung, sondern auch die des Zentralorgans 'Zeri i Popullit‘, in deren Kommentar der Sonntagsausgabe es heißt: „Wir haben einen langen Weg zurückzulegen. Ihr von der Opposition, wollt ihr mit uns zusammengehen, wollen wir gemeinsam Albanien helfen? Wir sollten Seite an Seite vorangehen, wie es den Albanern gebührt. Das ist ein Gebot des Vaterlandes.“

Diese nicht gerade von Siegeszuversicht zeugende Stellungnahme wird bei den Demokraten auf taube Ohren stoßen. Die Rhetorik ihres Parteivorsitzenden Sali Berisha ist gänzlich auf Sieg eingestellt. „Der 23.März wird das Ende des langen Weges Albaniens in die Nacht bezeichnen, es wird der Tag der demokratischen Morgenröte sein“, so Berisha pathetisch vor 150.000 Enthusiasten auf der Schlußkundgebung des Wahlkampfes in Tirana: „Ab 23.März begibt sich Albanien zurück in die europäische Familie, es macht sich auf den Weg in die wirtschaftliche, politische und militärische Integration Europas. Nach Europa, wohin Albanien gehört.“

Diese von den Sozialisten als „messianische“ Predigt bekrittelte Programmatik scheint zumindest bei der Bevölkerung der Hauptstadt gut angekommen zu sein. Europa, besonders die Bundesrepublik, steht für Wohlstand, Sicherheit und Ordnung. So nimmt es nicht Wunder, daß der Besucher aus Deutschland etwas peinlich berührt auch am Wahlsonntag der schwarz-rot-goldenen Fahne ansichtig wird. In der Druckerei des polygraphischen Kombinats, wo zu anderen Zeiten Erbauliches gedruckt wurde wie z.B. „Albanien heute“, sind die wenigen noch beschäftigen ArbeiterInnen unisono für die Demokratische Partei. Eine Ausnahme macht nur der technische Direktor. Nicht anders ist das Ergebnis im Traktoren- und Ersatzteil- Kombinat. Dort hält nur ein Vorarbeiter matt die Rote Fahne hoch.

Aber die Wahlen werden nicht in den großen Städten, sondern auf dem Land entschieden. Wählen die Menschen dort wie frischgebackene Kleinbauern oder wie verängstigte ehemalige Landarbeiter, die fürchten, daß sie ihr neues Land bald wieder los sein werden? Heute, so hat die Zentrale Wahlkommission versprochen, wissen wir das Ergebnis.

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