Tour d'Europe

■ Vor 2.000 Jahren: Marcus Tullius Cicero über Wahlkämpfe

Viel trägt zur siegreichen Führung einer Sache bei, daß der Charakter, die Grundsätze, die Handlungen und der Lebenswandel derer, die als Sachwalter auftreten, und derer, für die sie auftreten, Beifall, sowie dagegen dieselben Eigenschaften der Gegner Mißbilligung finden und daß die Gemüter der Zuhörer so viel als möglich zum Wohlwollen für den Redner und für den, dessen Sache der Redner führt, gestimmt werden. Zum Wohlwollen aber werden die Menschen gestimmt durch die Würde des Menschen, durch seine Taten und den guten Ruf seines Lebenswandels: Eigenschaften, die sich leichter durch die Rede ausschmücken lassen, wenn sie wirklich vorhanden sind, als erdichten, wenn sie nicht vorhanden sind. Doch förderlich ist für den Redner auch eine sanfte Stimme, der Ausdruck der Bescheidenheit, freundliche Worte und, sooft er etwas mit einiger Heftigkeit vorträgt, der Anschein, als tue er es ungern und gezwungen...

Es ist leicht, einen Laufenden anzufeuern

An diese Art der Rede schließt sich eine andere, von ihr verschiedene an, die auf andere Weise die Gemüter bewegt und sie zu Haß, Liebe, Neid, Verlangen, zu retten, Furcht, Hoffnung, Wohlwollen, Abscheu, Trauer, Mitleid, Rachsucht antreibt oder Empfindungen in ihnen hervorruft, die diesen und solchen Gemütsbewegungen ähnlich und verwandt sind.

Natürlich hofft der Redner, daß der Zuhörer oder Richter schon von selbst eine ihm günstige Haltung zur Versammlung mitbringt, denn es ist ja leichter, einen Laufenden anzufeuern denn einen Schläfrigen in Bewegung zu setzen. Ist dies aber nicht der Fall oder tritt es nicht deutlich hervor, so mache ich es wie ein gewissenhafter Arzt. So wie nämlich dieser, bevor er bei dem Kranken ein Heilmittel anzuwenden versucht, nicht allein die Krankheit dessen, den er heilen will, sondern auch seine gewohnte Lebensweise in gesundem Zustand und seine Körperbeschaffenheit erforschen muß, ebenso suche ich, wenn ich eine mißliche Sache übernehme, wobei es schwerhält, die Gemüter zu bearbeiten, mit der ganzen Geisteskraft meine Gedanken und Sorge darauf zu richten, daß ich in möglichst großer Scharfsichtigkeit aufspüre, was sie denken, urteilen, erwarten und wünschen und wohin sie wohl durch meine Rede am leichtesten gelenkt werden können. Wenn sie sich mir hingeben und von selbst dahin neigen, wohin ich sie bringen will, so benutze ich, was mir geboten wird und richte meine Segel dorthin, woher der Wind kommt.

Sind die Menschen aber unentschieden, so gibt es mehr Arbeit. Denn alsdann muß durch die Rede alles in Bewegung gesetzt werden, da die Natur nicht zu Hilfe kommt. Aber die Rede, die einst ein Dichter die Lenkerin der Herzen und die Beherrscherin aller Dinge genannt wurde, besitzt eine so gewaltige Kraft, daß sie nicht nur die Sinkenden auffangen und den Stehenden zum Sinken bringen, sondern auch den Widerstrebenden und Widerstand Leistenden, wie ein guter und tapferer Feldherr, gefangennehmen kann. Aus: Cicero, De oratore

Nach der Übersetzung von R. Kühner.

Cicero (106-43 v.Chr.), Rechtsanwalt und Politiker, hat seine Rhetorik von den Griechen erlernt und war selbst einer der berühmtesten Redner des Altertums.