: Intimität auf Distanz
Nomadisches Denken: Essays von Maurice Blanchot ■ Von Hans-Werner Zerrahn
In der französischen Literatur hat Blanchot, Jahrgang 1907, bereits seit den vierziger Jahren einen großen und noch immer anhaltenden Einfluß ausgeübt. Trotzdem mußte sein essayistisches Werk im Bewußtsein deutscher Leser lange eine etwas geisterhafte Existenz führen: Hin und wieder stießen wir auf Texte von ihm, oft nur in Anthologien, Zeitschriften und sogenannten Materialienbänden verstreute Bruchstücke seiner Bücher. Manchmal waren es wenige Seiten, vielleicht über Rilke, über Beckett, die aber dennoch geradezu aufatmen ließen. Denn mit ihnen begann jedesmal die Literatur wieder selbst zu sprechen; aber nicht als Antwort, sondern als ein ganzer Strudel von Fragen, ein endloser Irrweg der Sprache.
Für Blanchot ist die Literatur genau dies: ein Umweg, auf dem wir lernen können, uns selbst fremd zu werden, die Fremdheit in uns wahrzunehmen. Seine Essays sind Erkundungsgänge, fast körperlich vollzogene Erfahrungen. Sicherlich wird nicht jeder Leser ihre ein wenig asketische Strenge mögen; aber es geht hier überhaupt nicht mehr um Geschmacksurteile oder Fragen des guten Stils. Blanchot ist einer jener Autoren, die zu schätzen uns etwas kostet: Man kann nicht behaupten, seine Texte, Essays, Romane zu lesen, wenn man nicht bereit ist, ihn weiterzudenken, sich notfalls zu streiten. Vielleicht eine merkwürdige Behauptung vor einer Sprache, die so zurückhaltend ist, so still, und vor einem Autor, der sich als Person in völlige Diskretion zurückgezogen hat.
Intimität auf Distanz: Das ist wohl eine Charakterisierung, die auf das Verfahren Blanchots zutrifft. Obwohl er selbst auch mehrere Romane verfaßt hat, enthalten seine Essays keine Lehre und keine Ästhetik. Sie zeugen nur davon, wie sehr jemand, der schreibt, auch immer ein Leser ist. Nicht ein Leser, der immer schon weiß, worum es geht, der mit einem schönen deutschen Wort „belesen“ ist, sondern ein Leser, für den aus der Literatur die Faszination spricht. Um die Faszination herum stellen sich die Zitate ein, und die Literatur wird jedesmal beim Lesen neu erfunden.
Die Sammlung von Essays, die im vergangenen Jahr bei Hanser unter dem Titel Das Unzerstörbare erschienen ist, stellt genau dies Motiv des Lesens bei Blanchot an den Anfang. Die Stärke des Denkens Blanchots, die darin liegt, sich nie aus der Literatur herauszuabstrahieren, ein Denken in der Bewegung der Sprache zu sein, wird hier etwas plakativ hervorgekehrt. Die französische Literatur und Philosophie, Autoren wie Derrida, Foucault, sowie die sogenannte „Dekonstruktion“ im Ganzen bis hin zu Paul de Man: sie haben genau an diesem Tag von Blanchots Schriften eingestandenermaßen gelernt.
Die Herausgeber dieses Bandes haben sicherlich daran erinnern wollen; die Textauswahl, die sie nun hier aus zwei französischen Essaybänden zusammengestellt haben, hebt vor allem einige der großen Themen im Denken Blanchots hervor. Zwar verlängert das editorische Vorgehen einer bloßen Auswahl leider auch das Elend deutscher Blanchot-Übersetzungen. Es wird fast immer nur aus Originalveröffentlichungen herausgeschnitten, was gerade ins Bild paßt. Will man also auf deutsch nachlesen, wie sehr Blanchots Themen in große Texte der modernen Literatur vernetzt sind, so muß man weiterhin herumsuchen oder zu den Einzelpublikationen über Kafka, de Sade und auch über Foucault greifen.
Aber trotzdem ermöglicht nun diese Sammlung eine Korrektur: Blanchot hat tatsächlich als Romanautor den Nouveau Roman vorweggenommen und als Essayist auch seine Motive und Themen beeinflußt. Die Freundschaft mit Jean Paulhan und Georges Bataille rückte ihn auch in das Umfeld des Surrealismus. Als man in Deutschland aber den Anschluß an die europäischen Literatur-Avantgarden nachgeholt zu haben meinte, als sich die Themen änderten, da wurde einfach übersehen, daß Blanchot keiner Mode zugehört hatte. Wie ein alter Hut stand der erste und genaugenommen einzige komplett übersetzte Essayband, Der Gesang der Sirenen (1962 dt.), noch fünfzehn Jahre lang in den Buchhandlungen herum. Erst in den achtziger Jahren regte sich wieder Interesse an seinen Schriften.
Doch der etwas verzerrte und arretierte Eindruck, den man hier oft von Blanchot hatte, läßt sich nun nicht mehr aufrechterhalten. Die jetzt übersetzten Texte lassen einen Schriftsteller sprechen, dessen Echo wir schon oft gehört haben. Auf ihn geht vieles von dem zurück, was als typisch „poststrukturalistisch“ bezeichnet wird. Daß jeder Dialog zwischen Menschen auf einer Gewalt und einem Wahnsinn beruht, daß Literatur genau dies entdeckt und — wie Foucault es wiederholte — ein Denken des „Draußen“ ist: Wir finden diese Gedanken in Blanchots Essays wieder.
Vielleicht ist es bedauerlich und wiederum etwas vereinseitigend, wenn die Auswahl aus den Bänden L'entretien infini versucht, so etwas wie die theoretische Physiognomie dieses Autors herauszupräparieren. Er ist kein Philosoph, dem es um die Wahrheit hinter der Sprache und der Literatur geht. Eher wird auch Philosophie wie Literatur gelesen und in Beziehung zu Erfahrungen gebracht, in denen sich unsere Ausgesetztheit spiegelt. Wenn etwa in den früheren Texten Heidegger anklingt, so wird er rigoros uminterpretiert: Blanchot denkt über den Menschen, über das „Subjekt“ hinaus; aber nicht auf das Sein hin, wie Heidegger, sondern mit Levinas auf „den Nächsten“. Das Andere, das ist für Blanchot auch die Stimme des anderen, eine vielfältige, plurale Stimme.
Sie spricht in der Literatur; dort ist das Werk nicht von dem, der es schreibt, zu trennen und ebenso wenig auf das Produkt eines souveränen Künstlers zu reduzieren. Sie spricht aus dem anderen Menschen, aus dem, der leidet und aus dem, der verketzert wird. So kreist jener Aufsatz, von dem die Sammlung ihren Titel bezieht, um die Idee des Exils im Judentum und deren „Bejahung der nomadenhaften Wahrheit“.
Aber diese Stimme, von der Verleugnung und der Ausmerzung bedroht, spricht auch aus uns selbst: Ein großer, der schönste Teil der Essays ist in Form eines Selbstgesprächs komponiert. Was für Blanchot auf diese verschiedenen Weisen spricht, das ist das Unreduzierbare der Erfahrung; etwas, das sich nicht beheimaten, nicht rubrizieren, adressieren und ganz gewiß nicht wiedervereinigen läßt. Blanchot fordert uns auf, über das Nomadische unserer selbst nachzudenken und uns aus ihm zu verstehen, nicht aus der Seßhaftigkeit.
Der Mensch muß immer wieder neu gedacht, ja, auch erfunden werden. Aber er geht auch nicht auf in dieser Erfindung. Jenseits des Lichtes der Ordnung ist der Mensch das Abweichende, die Dunkelheit, ein flüchtiger Widerstand gegen Wissen und Kommunikation: Das ist Blanchots Variante des vielbeschrienen Anti-Humanismus.
Den Ariadnefaden durch das Labyrinth der Erfahrungen, in dem jede Wendung einen neuen Blick freigibt und nichts mehr sicher ist, bildet einzig die Fähigkeit des Hinhörens und des Respekts für das Andere: „Daß neben all den Sprachformen, in denen das Ganze konstruiert und ausgesprochen wird, Sprechen des Universums, Sprechen des Wissens, der Arbeit und des Heils, ein ganz anderes Sprechen zu erahnen ist, welches das Denken davon befreit, je nur Denken in Hinsicht auf Einheit zu sein, das also würde uns auf dem Grund des Schmelztiegels vielleicht noch übrigbleiben.“
Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz. Edition Akzente im Carl Hanser Verlag, 267Seiten, 39,80DM.
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