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Fahrradphobie

■ Mein Bürgersteig gehört mir: Fußgänger brauchen endlich eine Lobby für den Freigang

Mein Bürgersteig gehört mir:

Fußgänger brauchen endlich eine Lobby für den Freigang

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ush-hour in der Potsdamer Straße. Autos schlängeln sich im Schrittempo voran. Grünes Licht für Fußgänger. Eisern bahnen sie sich einen Weg durch die Blechlawine. Ein Fahrradfahrer von rechts nutzt die Gelegenheit und den Zebrastreifen. Ohne abzubremsen setzt er seine eilige Fahrt durch Fußgänger- und Autokolonnen auf die andere Straßenseite fort. Auf den Pedalen stehend, gibt er unmißverständliche bahnbrechende Zeichen mit der Klingel, streift kurz einen Herrn an der Bolle-Tüte, die sich samt Inhalt — Kartoffeln, Äpfel und Zahnpasta — auf die Straße entleert. Der Radfahrer nimmt mit einem freundlichen kurzen Kopfnicken das Mißgeschick zur Kenntnis und biegt blitzschnell in die gegenüberliegende Seitenstraße ein. Dort laviert er sich geschickt über den Gehsteig, weil die kopfsteingepflasterte Straße für seine sportliche Schmalbereifung hinderlich ist.

Neulich am Bus. Ein Frau mit Kinderwagen müht sich auszusteigen, kaum hat sie die Hinterräder des Kinderwagens auf den Bordstein gewuchtet, die Vorderräder versucht sie gerade mangels Aufmerksamkeit der Mitfahrenden verkrampft nachzuziehen, als sie durch anhaltendes schrilles Klingeln aufgeschreckt zur Seite springt. Der Kinderwagen kommt ins Trudeln, eine nun endlich alamierte Mitfahrende kann ihn gerade noch festhalten und, da sich die Bustür schon schließt, schnell nach außen abstoßen. Derweil muß sich die inzwischen wieder gefaßte Frau die Tiraden eines aufgebrachten Radfahrers anhören, der sie deutlich darauf aufmerksam macht, daß sie sich auf dem Radweg befinde. Mit einem drastischen „Unmöglich“ setzt der sich wieder auf sein metallenes Roß, strampelt unwirsch die an der Haltestelle Wartenden, die ebenfalls die Tabuzone Fahrradweg mißachtet haben, zur Seite. Elegant umfährt er eine Frau, die schnell noch den Bus erreichen wollte, überfährt dabei die weiße Linie und kollidiert beinahe mit einer undiszipliniert flanierenden Touristengruppe.

Freie Fahrt für freie Bürger, und Fahrradwege sind nunmal für Fahrräder da. Sie sind auch an Bushaltestellen mit weißen Linien deutlich vom Fußweg abgegrenzt und gelten als fortschrittliche Errungenschaft moderner Verkehrspolitik. Zum Einsteigen in den Bus sollte der umsichtige Mensch auf zwei Beinen daher erst links, dann rechts schauen und gegebenenfalls auch mal einen Bus auslassen, um beim Überqueren eine Kollision mit Rädern auszuschließen.

Schlechte Zeiten für passionierte Fußgänger. Die Rangordnung der Straßenbenutzer bestimmt die Geschwindigkeit. Und da das Rad allemal schneller als der Fußgänger ist, nützt ihnen auch das Laufen nichts. Sie laufen ohnehin dem Zeitgeist hinterher. Denn der fährt Rad. Fahrradfahrer sind dynamisch, gesundheitsbewußt, abgasgestählt und umweltverträglich. Mit der Sozialverträglichkeit des radelnden Fortschritts auf Berliner Gehwegen hat sich höchstens die fußkranke Oma herumzuschlagen. Die anderen können ja geschickt zur Seite springen. Dies ist wohl der Grund, warum sich bislang keine Lobby für die Rechte der Fußgänger gefunden hat. Die Gründung eines Allgemeinen Deutschen Fußgänger Clubs (ADFuC) stünde längst an! Doch ein Trost bleibt dem entnervten in jeder Hinsicht unterrepräsentierten Fußgänger, der mit seiner Fahrradphobie allein dasteht: Unterm Pflaster liegt der Strand — und der macht selbst dem ausgebufftesten Biker zu schaffen. Edith Kresta

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