: Sisyphos wälzt Akten
■ Neue bremische Forschungsgruppe sucht weltweit nach verschleppten russischen Kulturschätzen
Jaja, zahllose Gemälde aus bremischem Besitz sind von den Sowjets nach Kriegsende als sogenannte „Trophäenkunst“ eingekellert worden (s. Kasten). Wahr ist aber auch das Gegenteil: Zahllose Gemälde aus sowjetischem Besitz sind von SS-Kommandos geraubt und außer Landes geschafft worden. Weil die Gelegenheit lieber den Siegern lacht, waren's nicht ganz so viele wie im umgekehrten Fall; aber immerhin hat ein neues Forschungsteam an der Uni Bremen jetzt mindestens drei Jahre zu tun, diese verschollenen, in alle Welt versprengten Kunstschätze wieder aufzuspüren. Das Vorhaben wird großteils von der Behörde für Wissenschaft und Kunst finanziert.
Die Historikerin Marlene Hiller wird die Aktion von Bremen aus koordinieren; Mitarbeiter in den USA und in Rußland werden in Aktenbergen graben, werden alte Listen abgleichen und neue Listen erstellen, bis sich am Ende die Irrwege tausender Bilder verflechten lassen zu einer Kartographie der Verschleppung.
Nach dem Krieg sammelten die Amerikaner an sog. collecting points in Frankfurt und München das Raubgut der Nazis ein; von dort floß es, nach Möglichkeit, in die insgesamt 13 Herkunftsländer zurück. Allein die Sowjetunion erhielt 600.000 Stück Kunst aus diesen „Restitutions“-Beständen. Dennoch war erheblicher Schwund zu beklagen: Was alles zerstört, verschoben oder auch irrtümlich in die USA transportiert worden ist, läßt sich allerdings nur noch mit großen Mühen ermitteln.
Dem bremischen Team stehen, neben den hinterlassenen Dokumenten der SS, die amerikanischen „Restitutions“-Akten und erstmals auch die russischen Listen über bereits wiedererlangte Kunstschätze zur Verfügung. Dennoch ist das kriminologische Näschen unerläßlich: Erstens muß ausgetüftelt werden, welche Einträge in den ganz verschiedenartigen Listen einander überhaupt entsprechen; zweitens präsentiert Rußland Verlustlisten, die erst einmal bereinigt werden müßten. Dort verbergen sich zum Beispiel:
Bilder aus der Ukraine, die mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo in Rußland aufzufinden wären. Stalin hatte im 2. Weltkrieg die ukrainischen Kunstschätze vor den Deutschen in Sicherheit gebracht und großteils nicht mehr zurückgegeben.
Bilder, die unter Stalin heimlich gegen Devisen ins Ausland verkauft worden sind.
Bilder, die schon vor dem deutschen Überfall in den Wirren der 20er und 30er Jahre verschollen sind.
Zudem hat es seit 45 Jahren keinerlei Forschung zu diesem Thema gegeben. Selbst die verblichene Sowjetunion hatte offenbar kein großes Interesse am Verbleib ihrer Kunstgüter, vielleicht auch, weil es sich großteils um vorrevolutionäre, um kirchliche oder jüdische Werke handelte.
Insgesamt wird die Arbeitsgruppe, unterstützt von jüdischen Institutionen in den USA und u.a. der Harvard-Universität, den Verbleib von einer geschlagenen Million russischer Werke zu ermitteln haben. „Das ist ein geradezu archäologisches Unternehmen“, sagt Marlene Hiller, „wir graben in die Tiefe, und von oben her rutscht schon wieder alles nach.“
Das beherzte Unterfangen findet nicht nur unter russischen Museumsleuten lebhaften Anklang. Es könnte, obwohl die Unterhändler davon nicht gerne reden, die Verhandlungen über die Rückgabe deutscher Schätzchen aus russischen Kellern ziemlich voranbringen. „Die freuen sich“, sagt Marlene Hiller, „daß die Deutschen nicht nur fordern.“ schak
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