Beratungsstellen völlig überlastet

■ Finanziell desolate Lage bei Projekten, die mit mißbrauchten Mädchen und Frauen arbeiten

Ein Mädchen wälzt sich in einem Käfig. Von ferne dringen immer wieder die Stimmen der Eltern zu ihr durch. „Du bist doch Papis Liebling“, „Wehe, Du sagst Deiner Mutter etwas“, „Das geht nur uns beide etwas an“. Mit letzter Kraft schafft es das Mädchen, die Tür des Käfigs zu öffnen — und landet im Autonomen Mädchenhaus. Mit dieser eindringlichen Darstellung der Lage von über 10.000 mißhandelten Mädchen in Berlin machten Mädchenhaus-Mitarbeiterinnen im vergangenen Jahr auf die desolate finanzielle Lage der Projekte aufmerksam. Seitdem geht es weiter bergab. „Als unsere Wartelisten ein halbes Jahr überschritten, haben wir sie abgeschafft“, erzählt Sylvia Nitschke, Mitarbeiterin der Mädchenberatungsstelle von „Wildwasser e.V.“. Jetzt nimmt die Beratungsstelle nur noch dringende Fälle an, insbesondere wenn junge Mädchen selber kommen. 50 Anfragen von Erziehern, Müttern oder Lehrern wöchentlich werden abgelehnt.

Seit der Öffnung der Mauer ist auch der Zulauf aus dem Ostteil enorm. Eine Infrastruktur für sexuell mißbrauchte Kinder fehlte dort völlig. „Manchmal stehen sogar Frauen aus den umliegenden Städten vor der Tür und wollen untergebracht werden“, erzählt Sylvia Nitschke. Doch auch die wildwassereigene Zufluchtswohnung mit sechs Plätzen ist immer voll. Das Autonome Mädchenhaus, der Mädchen-, Kinder- oder Jugendnotdienst sind ebenfalls meist ausgebucht.

„Immer mehr Lehrer oder Erzieher trauen sich nicht einmal mehr, Mißbrauch aufzudecken“, erzählt Nitschke. „Das hat auch gar keinen Sinn, wenn die Beratungsstellen voll sind.“ Denn zuallererst einmal braucht ein mißbrauchtes Kind Zeit. Die Wildwasser- Arbeit umfaßt Aufdeckung des Mißbrauchs ebenso wie Vermittlung von Therapien und Begleitung zum Prozeß. Außerdem gibt es eine angeleitete Müttergruppe sowie einen Frauenladen und die Zufluchtswohnung. Nur mit einem Kuhhandel mit der Senatsverwaltung für Jugend ist es Wildwasser überhaupt gelungen, im vergangenen Jahr in vollem Umfang vom Modellprojekt in die Regelfinanzierung überzugehen. Die Mitarbeiterinnen verpflichteten sich im Gegenzug, eine Beratungsstelle auf ABM-Basis im Ostteil der Stadt aufzumachen, die den Senat praktisch nichts kostet.

Auf 600 m2 wollen „Wildwasser“ und das Frauensuchtprojekt „Stoffbruch“ demnächst unter einem Dach Beratungsstelle, Nachsorgetherapie und Gruppenarbeit einrichten. Noch fehlt eine halbe Million Mark zum Ausbau der Räume. Die Hoffnung auf Senatsgelder wurde längst aufgegeben. Jetzt haben sie einen Antrag auf die Vergabe von Lottogeldern gestellt. „Kind im Zentrum“ — eine Einrichtung für sexuell mißbrauchte Kinder, die auch mit Tätern arbeitet — hat bereits eine Beratungsstelle im Ostteil eröffnet. Auch dort kann man sich vor Anfragen kaum retten.

Dem Rotstift geopfert werden soll nun auch die interdisziplinäre Arbeit. Der „Fachrunde gegen sexuellen Mißbrauch von Kindern“ soll zum 1. Juli die einzige Stelle im Bezirksamt Kreuzberg gestrichen werden. Vor fünf Jahren hatten sich in der Runde Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen (Familienfürsorge, Kitas, Heime) mit freien Trägern wie „Wildwasser“ und „Kiz“ zusammengeschlossen. In verschiedenen Arbeitsgemeinschaften versuchen die Teilnehmer, die Lage der Kinder zu verbessern. In der AG „Rechtsumfeld des sexuellen Mißbrauchs“ beispielsweise arbeiten Projekt-Frauen gemeinsam mit Polizei und Gerichten an der Entlastung ihrer Opfer auf dem Weg von einer Strafanzeige bis zum Prozeßtermin. Ohne die Stelle der Koordinatorin wird diese Arbeit zusammenbrechen. Jeannette Goddar