: Kindesmißhandlungen und Kriegspsychosen
Seit dem wirtschaftlichen Niedergang Nikaraguas häufen sich Vergewaltigungen und brutale Gewalt gegen Kinder ■ Aus Managua Ralf Leonhard
Ein makaberer Kindermord hat die nikaraguanische Gesellschaft aufgerüttelt. Anfang März wurde am Rande eines Abwasserkanals in Managua die Leiche eines etwa zehnjährigen Mädchens gefunden: ohne Kopf, völlig nackt und mit schweren Verbrennungen am Körper. Gerichtsmediziner stellten fest, daß das Kind mißhandelt und vergewaltigt worden war, bevor der Tod eintrat. Die Identität des Mädchens konnte noch nicht geklärt werden.
Entrüstete Kommentare von der Staatspräsidentin abwärts blieben nicht aus. Während in den Medien die Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe erhoben wird und jeden Tag neue Spekulationen über den „Schakal vom Kanal“ auftauchen, beginnt sich die nikaraguanische Gesellschaft mit dem Phänomen der Gewalt gegen Kinder auseinanderzusetzen. Das kopflose Mädchen und zwei weitere Kinder, die Ende letzten Monat von Unbekannten aufgegriffen, mißbraucht und ermordet worden waren, sind nur die spektakulärsten Opfer einer zunehmenden Verrohung.
Seit der Wahlniederlage der Sandinisten vor zwei Jahren ist die Kriminalität sprunghaft angestiegen. Bewaffnete Überfälle in den Städten und auf der Landstraße gehören zur Tagesordnung. Wirtshausraufereien und Partnerschaftskrisen werden zunehmend mit Schußwaffen oder Handgranaten ausgetragen und im einst drogenfreien Nikaragua wird heute tonnenweise Kokain gedealt. Was die Psychologen aber vor allem beschäftigt, ist die Gewalt in der Familie. Die hat es zwar immer gegeben — wer seine Frau nicht ab und zu prügelt, ist kein guter Macho und die Züchtigung mit dem Ledergürtel ist ein sozial akzeptiertes Erziehungsmittel. Doch mit zunehmender Wirtschaftskrise steigt offenbar auch die Gewalt in den Familien überproportional an. Vor allem kinderreiche Familien haben zunehmend Existenzprobleme.
Das Sozialministerium spricht von einer halben Million Kinder (bei einer Bevölkerung von 3,5 Mio), die in einer „schwierigen Situation“ leben, also unzureichend versorgt sind oder regelrecht als verwahrlost gelten. Dutzende Minderjährige nächtigen im Umfeld der Märkte und berauschen sich am Geruch billigen Klebstoffs. Die „Leimschnüffler“ haben entweder gar kein Elternhaus oder werden zu Hause nicht ausreichend ernährt.
Allein in diesem Jahr sind 245 Fälle von Kindermißhandlung gemeldet worden. Letzte Woche wurde die achtzehn Monate alte Alba Gloria Gutierrez vor ihrem Vater gerettet, der ihr mit einem Holzscheit ein Bein gebrochen hatte. Das Kind hatte zahlreiche blaue Flecke am Körper und war schwer unterernährt. Eine kaum dem Kindesalter entwachsene Mutter ließ ihre neugeborenen Zwillinge im Krankenhaus liegen und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Vor kurzem griff die Polizei einen Betrunkenen auf, der ein zehnjähriges Mädchen abschleppen wollte, als es mit seinen Brüdern nach Eßbarem im der Müllhalde wühlte.
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine Minderjährige vergewaltigt wird. In den meisten Fällen ist der Täter ein enger Verwandter oder lebt in der Nachbarschaft. Oft werden Mädchen sogar jahrelang mit dem Wissen der Mutter mißbraucht. Auch im Fall des kopflosen Mädchens vermuten die Behörden, daß der Mörder im Bekanntenkreis zu suchen ist. Anders kann kaum erklärt werden, daß niemand gekommen ist, zumindest einen Identifizierungsversuch zu unternehmen. An Erklärungsversuchen für diese Verbrechen, die bisher in Nikaragua unbekannt waren, fehlt es nicht.
Erzbischof Obando macht die laizistische Erziehung während der Revolutionsdekade verantwortlich, während Psychologen eher die Inspiration im Fernsehen suchen. Die Horrorfilme, die serienweise über die Mattscheibe flimmern, oder auch wahre Geschichten, die in den Nachrichten in allen Details ausgeschlachtet werden, wie die des „Schlächters von Milwaukee“, könnten labile Charaktere zu Greueltaten anregen. Nicht zuletzt steht der Verlust moralischer Werte sicherlich auch mit dem Krieg in Zusammenhang, der gerade erst beendet, aber noch lange nicht verdaut ist. In den USA erzeugten die Spätfolgen des Vietnamkriegs eine Welle von Gewaltverbrechen. Und europäische Mediziner wissen, daß die Kriegspsychosen im Gefolge des Zweiten Weltkriegs die Kriminalität hochschnellen ließen.
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