: Hochglanz-High-Tech in Hannover
■ Bundeskanzler Kohl eröffnet die weltgrößte Investitionsgütermesse mit mahnenden Worten zur deutsch-deutschen Gesamtverantwortung/ In den Hallen überstrahlt Technik die Konjunkturwolken
Hannover (dpa/taz) — Das weltgrößte Wirtschaftsspektakel des Jahres, die Hannover-Messe Industrie, ist gestern abend von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) eröffnet worden. Rechtzeitig zu Beginn der Investitionsgüterausstellung auf einer Ausstellungsfläche in der Größe von 1.200 Tennisfeldern, die in früheren Jahren als positives Konjunkturbarometer galt, sichtete der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) nach zwei schwierigen Jahren eine vorsichtige Trendwende im westdeutschen Maschinenbau.
Im Februar lagen die Bestellungen in der Schlüsselbranche um real sechs Prozent höher als vor Jahresfrist. Die Branche mit ihren 1,1 Millionen Beschäftigten hatte erstmals im Dezember wieder ein kleines Plus von drei Prozent verbuchen können. Selbst über den Drei-Monats-Zeitraum Dezember 1991 bis Februar 1992, der von kurzfristigen Schwankungen weniger beeinflußt ist, ergab sich insgesamt ein realer Orderanstieg um ein Prozent.
Dabei ergab sich bei den Inlandsbestellungen eine Erhöhung um zwei Prozent, während die Auslandsaufträge auf unverändertem Niveau blieben. Im Gesamtjahr 1991 waren die Auslandsorders um 17 Prozent zurückgegangen.
Für den VDMA-Hauptgeschäftsführer Hans-Jürgen Zechlin sind die positiven Auftragszahlen noch kein Beweis für eine grundsätzliche Trendwende im deutschen Maschinenbau. Für einen generellen Konjunkturaufschwung im Investitionsgütergewerbe sind nach Ansicht von Zechlin zwei Voraussetzungen notwendig. Dazu gehöre eine Umkehr in der staatlichen Schuldenpolitik sowie Vernunft bei den anstehenden Tarifabschlüssen, sagte Zechlin.
6.600 Aussteller aus 50 Ländern
Trotz der Hoffnungen der westdeutschen Maschinenbauindustrie überwiegen zu Beginn der Schau in diesem Jahr die Sorgen vor einer Konjunkturflaute, in die die exportorientierte Wirtschaft Westdeutschlands infolge der weltweiten Rezession geraten ist.
Bei der Eröffnungsfeier der bis zum 8. April dauernden Hannover- Messe Industrie '92 appellierte Bundeskanzler Kohl an die Vertreter von über 6.600 Unternehmen aus 50 Ländern, aktiv dazu beizutragen, den Menschen in Ostdeutschland aus dem Schatten von über 40 Jahren Sozialismus-Kommunismus herauszuhelfen. „Denn Wiedervereinigung heißt auch: Sorgen und Probleme der Menschen in den neuen Bundesländern zum gemeinsamen Anliegen aller Deutschen zu machen“, sagte Kohl.
Der Bundeskanzler wies darauf hin, kein Bereich der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik könne von der Forderung ausgenommen werden, gesamtdeutsche Prioritäten zu setzen. Dies gelte für die Chefetagen der Unternehmen ebenso wie für die Verbands- und Gewerkschaftsspitzen. Auch die Tarifpolitik müsse sich ihrer gesamtdeutschen und gesamtwirtschaftlichen Verantwortung stärker bewußt werden.
In den Ausstellungshallen werden die erwarteten 400.000 BesucherInnen im Kontrast zur Kanzlerrede hochglanzpolierte neue Gerätschaften bewundern dürfen. So stellt Daimler-Benz ein Fahrzeug vor, das Bauarbeiter im Eurotunnel zwischen Frankreich und England „rasant“ mit Werkzeugen und Baumaterial versorgen soll. Das Servicefahrzeug soll mit einer Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern vollautomatisch und zentimetergenau durch die enge Tunnelröhre jagen.
Ein weiteres Faszinosum fürs Publikum dürfte ein neuer Kleinstmotor sein, der seine elektrische Energie von etwa 0,9 Volt aus einer Zitrone oder Orange bezieht. Oder jene Straßenlaterne, die ganz ohne Verkabelung und Stromanschluß auskommt und mit Sonnenenergie betrieben wird: So wird im Sommer die Brenndauer der Lampe automatisch verringert, während sie im Winter erhöht wird. Ein einjähriger Test ergab, daß die Lampe selbst während sonnenarmer Wintertage jede Nacht brannte.
Wirtschaftswunderliches Märchenland
Unerwähnt bleiben wird auf der Industrieschau wohl auch die Tatsache, daß die Hannover-Messe vor allem wegen des Eisernen Vorhangs zur heutigen Bedeutung anwachsen konnte, weil die traditionsreiche Leipziger Frühjahrsmesse vom Weltmarkt abgeschnitten war. Um die Wirtschaft in ihrer wirtschaftlich daniederliegenden Besatzungszone wieder anzukurbeln, gründete die britische Militärregierung 1947 die „Export-Messe 1947 Hannover“. Damals strömten 700.000 BesucherInnen auf das Ausstellungsgelände, von denen sich die wenigsten die ausgestellten Produkte leisten konnten — und erlebten so ein wirtschaftswunderliches Märchenland. dri
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