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Im Wartesaal der Westeuropäischen Union

Vergeblicher Aufnahmeantrag der Osteuropäer in eine Organisation ohne Einfluß/ Vielfalt oder Kompetenzenwirrwarr?  ■ Aus Berlin Christian Semler

Der Zerfall des sowjetischen Hegemonialsystems hatte für das militärische Establishment der westlichen Staaten neben vielen angenehmen auch eine beunruhigende Seite — er stürzte die Institutionen der westlichen Allianz in die Identitätskrise. Gewiß, die Nato hatte den kalten Krieg gewonnen — aber welche Organisation überlebt schon den eigenen Erfolg? Nicht nur ging das eherne Feindbild verloren, die einstigen Feinde verlangten stürmisch Einlaß ins Bündnis.

Für diese ungebetenen Kandidaten wurde auf Nato-Ebene der Konsultationsrat erfunden, ansonsten verwies man die Staaten Ost- und Ostmitteleuropas auf die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Aber das Versagen der KSZE-Kriseninstrumente angesichts des Bürgerkriegs in Jugoslawien kühlte die anfängliche Begeisterung für den Helsinki-Prozeß rasch ab. Jetzt klopfen die Osteuropäer an die Tür der Westeuropäischen Union (WEU).

Die Versammlung der WEU — eine Art Verteidigungsparlament von neun Staaten, die gleichzeitig Mitglied der EG und der Nato sind — hielt in den letzten drei Tagen in Berlin ein Colloqium zum Thema Eine neue Sicherheitsordnung für Europa ab. Dieses Gremium ist bar jeder Kontrolle und Entscheidungsbefugnis. Es ist eher die Bühne, auf der sich die Richtungskämpfe über das künftige Gewicht der verschiedenen supranationalen Bündnisse abspielt.

Für die Amerikaner ist die WEU so überflüssig wie ein Kropf. Für die Franzosen, die die militärische Integration der Nato schon zu de Gaulles' Zeit verließen, könnte die WEU zum Kern einer selbstständig agierenden europäischen Streitmacht werden. In diese Richtung weisen auch die Beschlüsse von Maastricht, die der WEU die Formulierung einer europäischen Sicherheitsdoktrin und die Vorbereitung einer gemeinsamen Streitmacht zur Aufgabe machen — freilich untermalt von ständigen Beteuerungen über die Notwendigkeit des transatlantischen Bündnisses.

Wer aber soll sich nun um die Sicherheitsbedürfnisse der ost- und südosteuropäischen Staaten kümmern: der Kooperationsrat der Nato, die WEU oder die KSZE? Auf die drängenden Fragen der französischen Parlamentarier gab Außenminister Hans-Dietrich Genscher die zu erwartende Antwort: Alle zusammen. Genscher befürwortete in seinem Referat eine „holistische“ Vorgehensweise, legte allerdings besonderen Wert auf den Ausbau des Krisenmanagements der KSZE. Indem die KSZE sich zu einer regionalen Organisation der UNO erklärte, könnte sie auch im Rahmen der UNO-Charta tätig werden: Also KSZE-Blauhelme.

In derselben Richtung bewegte sich die Argumentation Egon Bahrs, der den bemerkenswertesten Beitrag auf dem Colloqium hielt. Da die Vereinigten Staaten sich weigerten, der KSZE Truppen zur Verfügung zu stellen, könnte diese nach Kapitel 7 und 8 der UNO-Charta einen gemeinsamen Stab bilden und ein ständiges Truppenkontingent zur Friedenssicherung und — falls nötig — auch zur Intervention bilden. Für Bahr ist der Clou dieser Vorgehensweise die Einbeziehung der GUS- Staaten. Nur so könne man sie kontrollieren, erklärte er in gewohnter Offenherzigkeit.

Aber von welchem Sicherheitsbegriff gingen die Teilnehmer des Colloqiums aus? Der Generalsekretär der WEU, van Eekelen, entwickelte eine Art Skala der Bedrohungen, die sich in den meisten Referaten wiederholte. An der Spitze stehen die Gefährdungen, die sich für die Staaten des ehemaligen sowjetischen Hegemonialbereichs aus dem Übergang zu Marktwirtschaften ergeben. Der Verlust an Vertrauen für die neuen demokratischen Führungseliten — Folge des gefallenen Lebensstandards — könne stabilitätsgefährdend werden. Äußerst bedrohlich für die Stabilität sei auch die ökologische Katastrophe in den Oststaaten.

Genscher bereicherte in diesem Zusammenhang die politische Farbenlehre durch den Begriff der „Grünhelme“, einer künftigen KSZE-Katastrophentruppe. An dritter Stelle nannte von Eekelen ethnische und Minderheitenkonflikte als Folge des grassierenden neuen Nationalismus. Vom klassischen Bedrohungsszenario blieben auf dem Colloqium nur zwei Elemente übrig: die Gefahr der nuklearen Proliferation, insbesondere der Transfer von „Know how“ und die fortdauernde Stationierung marodierender Truppenhaufen der ehemaligen Sowjetunion auf dem Territorium der baltischen Staaten. So nimmt es nicht Wunder, daß die ökonomische Hilfe zu dem Schlüsselelement für die Stabilisierung der ost- und ostmitteleuropäischen Staaten erklärt wurde. Bloß — dazu konnte die WEU-Versammlung nichts beitragen.

Der dringliche Antrag der neuen östlichen Demokratien, mit der WEU assoziiert zu werden, hatte denn auch eher psychologische als strategische Ursachen. Man will dem Kreis der westlichen Nationen zugehören — und sei es auch in einem so unbedeutenden Gremium wie der parlamentarischen Versammlung der WEU. Aber selbst dieser Wunsch wurde frustriert. Eintritt nur für EG-Mitglieder!

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