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Kein Küßchen mehr für Onkel Paul

Hessens Jugendministerin Iris Blaul startet eine Kampagne gegen Kindesmißhandlung  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Wiesbaden (taz) — Mehr als 300.000 Kinder werden in Deutschland jedes Jahr sexuell mißhandelt — und alle zehn Minuten wird in Deutschland ein Kind körperlich gequält: „Brandmale, Knochenbrüche, Platzwunden, Blutergüsse zeugen von grausamer Gewalt.“ Iris Blaul (36), hessische Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit im rot-grünen Kabinett von Hans Eichel (SPD), stellte gestern in der Landeshauptstadt ihre Kampagne „Hinsehen — Erkennen — Helfen“ vor, mit der das Problem der Gewalt gegen Kinder „ein Stück weit aus der Privatheit herausgeholt und enttabuisiert“ werden soll. Rund eine halbe Million DM an Haushaltsmitteln hat die grüne Ministerin für diese Aufklärungskampagne lockermachen können. Blaul: „Noch immer wissen viele Menschen viel zuwenig über die Folgen der Gewalt. Sie können mit den Reaktionen der Betroffenen nicht angemessen umgehen und reagieren deshalb trotz bester Absichten oft verständnis- und hilflos.“ Solange noch Eltern Schläge für ein „normales Erziehungsmittel“ halten würden, könnten auch die Gewaltexzesse gegen Kinder letztendlich nicht verhindert werden.

Die Kampagne der Sozialministerin richtet sich deshalb an Eltern und ErzieherInnen und an die betroffenen Kinder selbst. Mit Plakaten, auf denen „keine Lolitas“ (Blaul) zu sehen sind, sondern Kinder, denen ein rotes Pflaster den Mund verschließt, soll „gezielt und in der Breite“ für diverse Podiumsdiskussionen zum Thema in ganz Hessen geworben werden. Dazu kommen Zeitungsanzeigen und Kinospots, Postkartenserien und Aufkleber. Spezielle Aufklärungsbroschüren gehen an Eltern, LehrerInnen und KindergärtnerInnen. Und gerade in den Kindergärten sollen die Kleinsten mit Bilderbüchern das „Neinsagen“ lernen. Schon das obligatorische „Küßchen für Onkel Paul“, so Iris Blaul, sei ein „Akt der Nötigung“, wenn die Eltern gegen den Willen des Kindes darauf bestehen würden. Und auch der „alltägliche Klaps“, der angeblich „ganz bestimmt noch nie geschadet“ habe, verletzte Leib, Seele und Würde eines Kindes.

Bereits 16 Prozent der Erstkläßler bekommen Psychopharmaka verabreicht, weil sie nicht so funktionieren, wie sich ihre Eltern das wünschen. Blaul: „Was passiert da mit den Kinderseelen?“ Und nicht der „böse Mann“ sei insbesondere bei sexuellen Mißhandlungen der Täter, sondern Verwandte und Bekannte und in rund einem Drittel der Fälle der leibliche Vater. Blaul: „Fast alle Opfer sexueller Gewalt kämpfen ihr Leben lang mit den Folgen. Angst raubt ihnen den Schlaf, ihre Hilfeschreie verhallen ungehört, Verzweiflung macht sie stumm, Depressionen schnüren ihnen die Kehle zu.“ Und deshalb, so Blaul, stehe sie „voller Parteilichkeit“ auf der Seite der Kinder. Hessen hat im Rahmen der Verfassungsdebatte eine Initiative gestartet, mit der ein „Kindergrundrecht“ (Artikel 6) durchgesetzt werden soll. Kinder seien schließlich nicht Eigentum ihrer Eltern.

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