Plagen Ratten die Stadt?

■ Geteilte Meinungen über die angeblich 35 Millionen Ratten in der Stadt/ Gezielte Aktion der Boulevardpresse oder der Bonn-Lobbyisten, die Regierungsumzug verzögern wollen?

Ein PKW, der sich in nichts von anderen Fahrzeugen unterscheidet, hält vor einem Mietshaus im Wedding. Ein junger Mann in Jeans und Turnschuhen, den ein angenehmer Parfümduft umgibt, betritt mit einem braunen Koffer den Hinterhof, der mit Bauschutt und Müll verdreckt ist. Zielstrebig steuert er auf die offenstehende Kellertür zu. Der 24jährige David Knobel, den man früher »Kammerjäger« oder »Zimmerförster« genannt hätte, ist auf der Suche nach einigen der angeblich 35 Millionen in Berlin lebenden Ratten.

Stefan Backhaus, selbst gelernter Schädlingsbekämpfer, hatte in einem Radiointerview vor einer Rattenplage in Berlin »ähnlich wie in Rom oder Venedig« gewarnt. »Auf jeden Berliner Einwohner« kämen »eine bis zehn Ratten«. Damit verhalf er der Boulevardpresse zu verkaufsfördernden Schlagzeilen. Seitdem herrscht jedoch große Verunsicherung in der Stadt. Besteht nun Grund zur Besorgnis oder nicht?

Mit der Taschenlampe sucht der Jungschädlingsbekämpfer, der durch eine Heirat zu dem Beruf, »über den man so wenig spricht«, gekommen ist, vergeblich nach Rattenkot. Aber die kleinen, sauber ausgehöhlten Löcher im Estrichboden sind Indiz genug, um die Ratten im Keller zu »überführen«. Einige Rohre, die oberhalb der Kellerwände verlaufen, fristen ein »spinnenwebenloses Dasein« — ein zweiter Beweis dafür, daß der Keller nicht nur Eingemachtes, Kohlen und Gerümpel beherbergt. Die Rohre werden von Ratten belaufen.

Aus dem Dunkel einer modrigen Kellerecke tönt Knobels Stimme: »Ich suche immer noch Scheiße, finde aber nichts.« Kein Kot, keine Schmauchspuren, keine Ratten zu sehen. Und trotzdem sind sie da — die lichtscheuen Tiere, die vor Menschen viel mehr Angst haben als wir vor ihnen. »Ein stinknormaler Rattenbefall. Im Haus wird gebaut, im Hof liegen Bauschutt und Müll herum. Das lockt die Ratten aus ihren Verstecken«, so der abgeklärte Kommentar des Jungschädlingsbekämpfers. Alle paar Meter werden im Keller Schälchen mit jeweils 50 Gramm Rattengift (bißfester Weizen, vermischt mit Bluthemmern) aufgestellt. Nach zwei Wochen wird nachkontrolliert. Für viele Schädlingsbekämpfer ein »ganz normaler Alltag« und nicht alarmierend.

Hört man sich unter den Schädlingsbekämpfern in der Stadt um, erfährt man sehr unterschiedliche Angaben über den Rattenbestand. Da die meisten Ratten in der Kanalisation leben, sind Statistiken nicht zu erstellen. Es wird von »kleinen Krautern gesprochen, die am Rande der eigentlichen Aktivitäten arbeiten« und von »einer gezielten PR-Aktion« gemunkelt. Backhaus, der sich selbst eher pessimistisch einschätzt, kritisiert, daß die Ratten nur »punktuell« bekämpft werden und »flächendeckend« nichts unternommen wird. Dem Senat wirft er vor, »das Problem zu verharmlosen«.

Für Hans-Jürgen Otto, Amtsarzt im Gesundheitsamt Schöneberg, ist die Rattenhysterie »ein Saure-Gurken-Zeit-Thema«. Seiner Meinung nach sind die Zahlen in Berlin »eher rückläufig«. Schädlingsbekämpfermeister Jürgen Ksinsik geht von »maximal zwei Ratten pro Einwohner« aus. Und das sei noch sehr hoch gerechnet. Seiner Meinung nach ist »das Gerücht der Rattenplage aus der schreibenden Zunft entstanden«. Schädlingsbekämpfer Gajek, Knobels Schwiegervater, spricht gar von »Bonnlobbyisten«, die mit diesem Gerücht den Berlinumzug verzögern wollten.

Jochen Handrich, tätig im Außendienst der Schädlingsbekämpfungsfirma »Rentokil« (am Telefon leicht falsch zu verstehen als »Rent a kill«), bei der Backhaus selbst einige Jahre als Schädlingsbekämpfer beschäftigt war, räumt ein, daß es in den letzten fünf Jahren keine längeren Frostperioden gegeben hat und die Mortalitätsrate somit gesunken sei. Trotzdem hält er die Zahl von 35 Millionen für eine »ziemlich kühne Behauptung«. Flächendeckende Maßnahmen, wie sie Backhaus fordert, »würden jeden Etat, ob privat oder staatlich, überschreiten. Wenn die Ratten in der Kanalisation sind, kann man nichts machen«, so sein Fazit.

Jürgen Wegner, Geschäftsführer der »berliner bär« e.G. in Ost-Berlin, rechnet wie viele andere Schädlingsbekämpfer nicht mit einer Rattenplage. »Natürlich gibt es bei uns, genauso wie im Westteil der Stadt, bestimmte Stadtbezirke mit besonders vielen Ratten, wie Prenzlauer Berg und Mitte«. Als »Quatsch« bezeichnet Liane Beyer, Referatsleiterin für Orts- und Seuchenhygiene beim Bezirksamt Mitte die Behauptung, daß sich speziell am Alex viele Ratten tummeln würden. Sie spricht von einem »gleichbleibenden Bestand«.

Eine oder zehn Ratten pro Berliner Kopf? Keiner weiß es genau. Vielleicht sollte sich jeder einen Rauhaardackel aus bayerischer Züchtung mit enormen Schneidezähnen zulegen, so wie Gajek einen hat, (und der seit sechs Jahren auf den Namen »Ossi« hört!), mit dem es »echt Spaß macht, in Wohnungen Jagd auf Ratten zu machen«.

Jungschädlingsbekämpfer David Knobel verläßt das Mietshaus im Wedding ebenso unauffällig, wie er gekommen ist. Noch immer scheint es »anrüchig« zu sein, Ungeziefer im Haus zu haben. Barbara Bollwahn