Rußlands Volksdeputierte contra Jelzin

Regierungsumbildungen und Bauernopfer am Vorabend des Kongresses/ Mehrheit der Abgeordneten stammt aus der alten Nomenklatura und möchte den Wirtschaftsreformen ein Ende machen  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Nimmt man die Polizeipräsenz zum Gradmesser, die sich in den letzten Tagen rund um die Datschen der politischen Kaste im Westen Moskaus offenbarte, dann verspricht der sechste Volksdeputiertenkongreß ein explosives Unterfangen zu werden. Heute eröffnet das Gremium seine neuntägige Sitzungsperiode. Vielleicht diente die massive staatliche Observanz, wie so oft in Rußland, aber auch nur einem: den Kontrahenten am Vorabend die Möglichkeit zu verschaffen, ihren Kuhhandel ruhig abzuwickeln.

Das höchste gesetzgebende Organ Rußlands tritt zum ersten Mal seit Freigabe der Preise und Implementierung der Wirtschaftsreformen Anfang Januar zusammen. In seiner Mehrheit setzt es sich aus alten Apparatschiks zusammen, die noch während der Ägide der KPdSU zu ihrem Mandat gelangten. 77 Prozent der Delegierten arbeiteten zum Zeitpunkt ihrer Wahl auf höheren, mittleren oder niederen Etagen der Administration. Sie waren mit dem alten System aufs engste verknüpft. Lediglich ein knappes Viertel der Volksvertreter stammte aus „bürgerlichen“ Berufen. Daraus versuchten die Gegner der Jelzinschen Reformpolitik in den letzten Wochen Kapital zu schlagen, um den Präsidenten zum Einlenken auf ihre Position zu bewegen. Diese umfaßt die Rücknahme der Preisliberalisierung und die Stornierung der Privatisierungsvorhaben in Industrie und Landwirtschaft. Den Vorsitzenden der Konzerne und Sowchosen war das aus dem Herzen gesprochen. Als härteste Widersacher profilierten sich Ruslan Chasbulatow, Vorsitzender des Obersten Sowjets Rußlands, und Jelzins Vizepremier Alexander Rutskoi. Ihm wird besondere Nähe zum militärisch-industriellen Komplex nachgesagt. Zunächst ist die Bedrohung nicht aus der Luft gegriffen.

Denn nach der noch gültigen russischen Verfassung aus der Sowjetära, kann eine Mehrheit des Volksdeputiertenkongresses oder der Abgeordneten der beiden Kammern des Obersten Sowjets die Regierung abwählen. Ein neuer Verfassungsentwurf, den Jelzin am ehesten favorisieren und der dem Gremium zur Verabschiedung vorgelegt werden soll, schränkt dieses Recht der Legislative erheblich ein. Lediglich Minister können dem Entwurf zufolge einzeln vom Kongreß abberufen werden. Zwar hatte Chasbulatow immer wieder beklagt, die Legislative würde durch die starke exekutive Macht, die der Präsident mittels seiner Dekretpolitik zur Gesetzgebung nutze, in seiner Aufgabe behindert. Doch das Parlament hat seit dem Augustputsch auch wenig unternommen, um Demokratie und Reform per Gesetz auf den Weg zu bringen.

Chasbulatows Kritik hat eine Menge mit persönlichen Ambitionen zu tun, für die er die Angst der Nomenklatura, ihrer Pfründe verlustig zu gehen, geschickt zu instrumentalisieren weiß. Der Absicht Jelzins, in der neuen Verfassung die lokalen parlamentarischen Sowjets durch andere Gremien zu ersetzen, weil sie die Reformpolitik blockieren, werden die konservativen Abgeordneten zunächst Widerstand leisten. Parallel zum Projekt der Verfassungskommission unter Leitung von Oleg Rumjanzew soll auch das ehemalige Regierungsmitglied Sergej Schachrai im Auftrage Jelzins an einer Neuauflage der Konstitution arbeiten.

Rumjanzews Blaupause wird nachgesagt, sie sei ein Produkt der Übergangszeit, die den alten Interessengruppen zu viel Bedeutung einräume, während sie die Notwendigkeiten zukünftiger Entwicklung und neuer Interessen kaum berücksichtige. Sergej Schachrai war als erster aus der Regierungsmannschaft letzte Woche zurückgetreten, um aus der Schußlinie des Parlaments zu geraten. Noch sind Schachrais Vorstellungen nicht bekannt. Jelzin, so viel steht fest, gibt einem starken Präsidialsystem mit einer parlamentarischen Mischform den Vorzug.

Schachrai war nur der erste, den Jelzin „opferte“. Auch den Architekten der Wirtschaftsreformen Jegor Gaidar beorderte er hinter die Frontlinie. Er entband ihn von seinen Aufgaben als Finanzminister, nahm ihn aus dem Kabinett, läßt ihn aber verantwortlich bleiben für die Durchführung der Reformen. Das gleiche Schicksal erlitt Jelzins rechte Hand, Gennadij Burbulis. Er verlor seinen Posten als stellvertretender Premierminister, bleibt aber weiterhin Staatssekretär. In der Tat wurden die Befugnisse Burbulis' durch die Kabinettsumbesetzung sogar noch erweitert. Das gleiche gilt für den ehemaligen Arbeitsminister Alexander Schochin. Er dient Jelzin weiter als stellvertretender Premierminister. Viel mehr als kosmetische Korrekturen, um den Heißspornen des Kongresses den Wind aus den Segeln zu nehmen, sind mit dieser Umstrukturierung nicht verbunden. Noch nicht. Vielleicht gelingt es Jelzin sogar, durch die Neubesetzung der Posten, die Garde der Reformer um ihn zu erweitern.

Aufhorchen ließen kurz vor Kongreßauftakt die verbindlichen Töne der Widersacher Chasbulatow und Rutskoi. Beide versicherten in der Öffentlichkeit, ihnen sei an einem Sturz oder Rücktritt der Regierung, wie es Chasbulatow noch vor Monatsfrist gefordert hatte, nichts gelegen. Rutskoi sprach von einem „gefährlichen Machtvakuum“, das in so einem Fall entstehen würde und Chasbulatow warnte Kritiker davor, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, man wolle mit den Konservativen gemeinsame Sache machen. Jelzin und der Parlamentsvorsitzende sollen sich unlängst zu einem „Deal“ getroffen haben.

Ein Memorandum aus dem Umkreis der Regierung rät zum ruhigen Vorgehen. Sollte die Versammlung die Verfassung blockieren, schlägt Jelzin vor, die Verfassungsfrage und damit auch das Schicksal der widerspenstigen Abgeordneten auf allen Ebenen legislativer Macht durch ein Referendum klären zu lassen. Noch immer genießt Jelzin trotz unpopulärer Maßnahmen das Vertrauen von knapp fünfzig Prozent der Bevölkerung. Und noch etwas sickerte durch. Allzu zähen alten Kadern wolle man „zum Umdenken“ helfen, in dem man sie während des Kongresses „gezielt“ mit ihrer korrupten politischen Vergangenheit konfrontiere. „Denomenklaturisierung“ ist diese Kampagne in einem Regierungspapier überschrieben, das sich Gedanken zum taktischen Vorgehen macht.