: WARSCHAUER ZENTRALBAHNHOF: TUMMELPLATZ DER KLEINKRIMINELLEN BANDEN
„Zugabfertigung“ in Warschau
Warschau (taz) — Das Szenario ist immer das gleiche. Ein Expreßzug fährt in den Warschauer Zentralbahnhof ein, die Reisenden stürzen zu ihren Wagen und drängen sich an den Türen. Jugendliche in Trainingsanzügen mischen sich unter die Reisenden, ohne Gepäck, aber dafür mit Jacken über dem Arm oder leeren Taschen in der Hand. Jacken und Taschen dienen dazu, die Hände zu tarnen, die dann anfangen, die Taschen der Reisenden zu leeren. Eine Bande teilt sich immer in zwei Gruppen: Die erste kommt vom Ende des Wagens, die zweite vom Anfang. So nehmen sie ihre Opfer im Waggon in die Mitte, es beginnt eine Drängelei, ein Gezerre, in dem es ein leichtes ist, dem Opfer alles abzunehmen, was nicht niet- und nagelfest ist.
Die Frau eines westlichen Diplomaten, die den Fehler beging, mit dem Berolina-Expreß von Berlin anzureisen, wurde schon zwischen dem Westbahnhof und dem Zentralbahnhof, wenn der Zug im Tunnel fährt, ausgenommen. „Plötzlich wurde ich von ein paar großen, stinkenden Kerlen in Jeans hin- und hergezerrt, ich spürte genau, daß sie in meinen Taschen und Kleidern wühlten, aber ich war völlig hilflos. Der Zug war leer, und die Kerle waren mindestens zu viert. Ich fühlte mich, als sei ich vergewaltigt worden.“ Sie verlor ihr gesamtes Bargeld und ein komplettes Euroscheckheft. Das tauchte bald wieder auf, mit gefälschten Unterschriften, eingelöst im Warschauer Hotel Polonia, gegenüber dem Zentralbahnhof. Kein polnisches Hotel zahlt normalerweise Bargeld gegen Schecks aus, und selbst Banken tun das nur, wenn man zur Scheckkarte noch den Reisepaß vorlegt. Den hatten die Räuber allerdings nicht mitgenommen. Für die Geldwäsche im Hotel zeigte die Polizei allerdings bisher noch kein gesteigertes Interesse.
Das gleiche läßt sich von den Streifen im Bahnhof sagen, die vorwiegend im oberen Teil spazierengehen, da, wo nichts passiert. Unterdessen ziehen die Banden auf den Bahnsteigen ihre Nummern wie am Fließband ab. Innerhalb von zehn Minuten werden so drei Züge „abgefertigt“. Früher einmal hatte die Dieberei noch Niveau, da waren wirkliche Taschendiebe am Werk, die den Opfern oft den leeren Geldbeutel wieder zurück in die Tasche steckten, ohne daß diese etwas bemerkten. Heute achten die Banden nicht mehr auf solche Feinheiten.
Vor anderthalb Jahren, als sich die Polizei in einem seltenen Anfall von Diensteifer entschloß, einen Bahnsteig abzuriegeln, folgte eine mehrstündige Straßenschlacht durch die Warschauer Innenstadt, bei der es 30 Polizisten gegen 15 Diebe gelang, gerade einen festzunehmen. Anschließend stopfte die Hauptwache den Bahnhof für einige Wochen mit Hundestaffeln, Anti-Terror-Kommandos und Zivilfahndern voll. Die Diebesbanden gingen auf Tauchstation und vergnügten sich auf anderen Warschauer Bahnhöfen. Inzwischen sind die Polizisten wieder weg und die Diebe wieder da. Die Bandenmitglieder sind der Polizei zumeist namentlich bekannt. Fallen hat man ihnen bisher keine gestellt. Von Razzien und ähnlichem wissen die Banden meist vorher. In der Szene ist es kein Geheimnis, daß auch Polizisten am Geschäft mitverdienen. Vor einiger Zeit ging der Fall eines Polizeikommissars durch die Presse, dem 10.000 Dollar für die komplette Liste aller Polizeispitzel auf dem Bahnhof angeboten worden sein sollen. Sollte er ablehnen, werde man seine Familie massakrieren. Der Mann beging später Selbstmord. Klaus Bachmann
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