KOMMENTAR: Großes Lamento
■ Die „Gefahr für die Demokratie“ liegt gerade in der Saturiertheit der Volksparteien
Mit routiniert-betroffenem Gestus haben die beiden angeschlagenen Großparteien nach den Niederlagen Ursachenforschung simuliert. Dabei kommt der Einzug der Rechten in die beiden Landesparlamente passend, um als Bedrohung der Demokratie ausgeben zu können, was zuallererst die Krise der beiden Großparteien anzeigt. Doch das Verantwortungspathos der Etablierten kann kaum verkleiden, daß die Etablierten im Bewußtsein der Wähler ihrer Verantwortung immer weniger gerecht werden. Mit der Rede von der Gefährdung des parlamentarischen Systems setzen Union und SPD umstandslos voraus, was durch das Wahlergebnis gerade in Frage gestellt ist: die Identifikation von Eigeninteresse der großen Volksparteien und Gesamtinteresse im Sinne einer funktionierenden Demokratie. Doch deren Gefährdung besteht nicht im Einzug der Rechtsradikalen, sondern im entschlossen selbstgerechten „Jetzt erst recht“, das in den Wahlkommentaren der Spitzenkandidaten zum Ausdruck kommt.
Dabei ist das taktische Verhältnis der großen Parteien zu den Bürgern als Wähler nur die moderatere Variante des erfolgreichen Rechtspopulismus, der jetzt als Inbegriff der Bedrohung herhalten muß. Denn in den wahlbestimmenden Themen Asyl und Folgekosten der Einheit treiben SPD wie CDU mit der Suggestion schneller — zumindest glimpflicher Lösungen — antiaufklärerische Politik. Statt die Wähler auf die unausweichlichen Wohlstandseinbußen vorzubereiten, gilt im Tenor noch immer des Kanzlers Einheitsmotto: „Keinem wird es schlechter gehen.“ Statt die neue Völkerwanderung und ihre einschneidenden Konsequenzen für die Wohlstandsinsel im Zentrum Europas zu thematisieren, streitet man weiter um Verfahrenstricks. Offen wäre, ob die Bürger die ungeschminkte Problemanalyse honorieren würden. Einen Versuch wird es wert sein müssen, wenn Problemverschleierung und ungedeckte Wahlversprechen bald nur noch denen abgenommen werden, die sie am unverschämtesten präsentieren.
Weil die tragenden Parteien nicht umdenken, tun es die Wähler. 30 Prozent klinken sich aus, zehn Prozent setzen auf die dummdreiste Parole „Deutsche Politik für deutsche Bürger“. Das ist zweifellos deprimierend — doch kein Grund zur Panik. Die wachsende Anfälligkeit für rechts ist ein Stück europäische Normalität, die — zugegeben — in Deutschland schwerer zu ertragen ist. Doch sie ist ungeachtet dessen auch ein Stück demokratischer Normalität. Das gesellschaftliche Potential für rechts ist — nicht zuletzt wegen der Dominanz der Großparteien — vorhanden; besser, man hat es in den Parlamenten. Ausgrenzung verstärkt nur das Ressentiment, sie wäre selbst wieder populistisch- profitabel. Alle bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, daß die Rechten nicht in der Lage sind, das Parlament als Bühne zu nutzen.
Dennoch ist der Erfolg der rechten Parteien ein drastisches Signal gegen die eingespielten Verhältnisse. Gerade deshalb aber läge für SPD und Union der Schulterschluß nahe, den Brandt und andere seit einiger Zeit für Bonn schon anmahnen. Im großen Lamento, das jetzt anhebt, scheint die Große Koalition schon vorgebildet. In ihr aber fände das falsche Verantwortungspathos des Wahlabends seinen zweifellos unverschämtesten Ausdruck, würde vor allem die Entschlossenheit von SPD und Union deutlich, den Vertrauensverlust zu ignorieren und damit zu potenzieren. Für die SPD wäre dies die Neuauflage des klassischen Wiedereinstiegsszenarios in die bundespolitische Verantwortung, für die Union die Chance, nach dem Einheitstriumph die politischen Folgekosten ein Stück weit abzuwälzen. Programmiert wäre damit jedoch zugleich, daß das gesellschaftliche Frustrationspotential weiter anwächst. Nicht das Abschleifen der letzten Differenzen zwischen den Volksparteien, sondern mehr Konkurrenz wäre notwendig, um der Konkurrenz von rechts zu begegnen. In diesem Sinne wäre nichts begrüßenswerter als die schwarz-grüne Koalition in Baden-Württemberg. Wären Grüne und Union in der Lage, über ihren Schatten zu springen und die Kombination des vermeintlich Unvereinbaren zu versuchen, wäre das in der Tat ein Signal gegen die erstarrten bundesdeutschen Verhältnisse. Matthias Geis
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