Und die Bonzen lügen weiter

Nach dem Berghofer-Prozeß in Dresden liefert der zweite Wahlfälschungs-Prozeß in Halle weitere Beweise: Das Wahlergebnis stand einen Tag vor der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 bereits fest/ Erinnerungslücken bei den SED-Chefs  ■ Aus Halle Nana Brink

Beim zweiten Prozeß gegen die DDR-Wahlfälscher vom Mai 1989, der seit über einer Woche in Halle stattfindet, kommt langsam Licht in das Dunkel der Wahlmanipulation und ihrer Mechanismen. Helmut Klein, ehemals Leiter des Rechenzentrums der Stadt Halle, berichtete von einer Sitzung drei Tage vor der Kommunalwahl von 1989. Die Teilnehmer: der Hallenser SED-Stadtchef Falkenstein, der stellvertretende Bürgermeister Manfred Nitzer sowie drei Stadtbezirksbürgermeister.

Bei dem Treffen hätte Falkenstein mit Zustimmung Nitzers konkrete Zahlen für das Wahlergebnis genannt. Die Bezirksbürgermeister hätten zwar protestiert, sich letztlich jedoch dem Ansinnen gebeugt. SED- Chef Falkenstein hat diese Zeugenaussage bisher heftig bestritten.

Der Wahlfälschung in Halle angeklagt sind der ehemalige stellvertretende Bürgermeister, Manfred Nitzer, sowie die drei Stadtbezirksbürgermeister und deren Stellvertreter. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, „in Umsetzung staatlicher und parteilicher Weisungen in der Form der Anstiftung das Wahlergebnis vom Mai 89 fiktiv vorbestimmt zu haben“.

Genaue Zahlen für Ja- und Nein-Stimmen

Nitzer soll beim Treffen am 4. Mai die genauen Zahlen für die Wahlbeteiligung, die Ja- und Nein- sowie die ungültigen Stimmen genannt haben. Am Tag der Wahl seien dann die eigentlichen Ergebnisse daraufhin manipuliert worden. Der Prozeß in Halle verläuft oft nach denselben Mustern wie sein Vorgänger in Dresden, doch in der konkreten Beweisführung kommen klarere Fakten über die Wahlfälschung auf den Tisch.

Zeuge Klein, der ehemalige Leiter des Rechenzentrums, erklärte, daß die am Wahltag aus den einzelnen Bezirken kommenden Ergebnisse mit den vom SED-Chef zuvor ausgegebenen Zahlen übereinstimmten. Und Werner Mros, am Wahltag in der Rechengruppe Halle- Ost beschäftigt, verdichtete mit seiner Zeugenaussage den Verdacht einer straff von oben nach unten organisierten Manipulation.

Am Vortag der Wahl war auf Weisung des SED-Bezirkschefs ein bis auf das letzte Wahllokal berechnetes Bezirks-Ergebnis vorzulegen. Am Wahltag dann Planung bis ins letzte Detail: Eine Wahlhelferin, in einem „Meldekopf“ in Halle-Süd zuständig für die telefonische Weitergabe der Ergebisse aus drei Wahllokalen, berichtete von „Korrekturen“ der Gegenstimmen. Zwei „Meldereiter“ hätten die von ihr entgegengenommenen Zahlen in die übergeordnete Rechengruppe Ost getragen. Als sie sie daraufhin an das Wahlbüro der Stadt weitergegeben hätte, wären ihr „deutliche Differenzen“ — in einem Fall die Reduktion von 77 auf 24 Gegenstimmen — aufgefallen.

Eine Überprüfung der Wahlunterlagen, die mit Bleistift ausgefüllt werden mußten, auf manuelle Manipulation oder eine Einsicht in die gespeicherten Daten ist unmöglich. Auf Weisung des obersten Wahlchefs Egon Krenz wurden sämtliche Unterlagen zwei Wochen nach der Wahl vernichtet.

Erinnerungslücken bei Fälschungschefs

Anders als im Dresdener Prozeß schwiegen sich die Angeklagten in Halle bislang aus und machten von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch. „Ein Geständnis“, so die Staatsanwältin Brigitte Strullmeier, sei aber in den nächsten Tagen zu erwarten. Auf Grund einer „Panne“ — so die Staatsanwältin — bei der polizeilichen Aufnahme der Verhöre, die bereits aus der ersten Ermittlungsphase zu Beginn des Jahres 1990 stammen, könnten wichtige Beweise nicht in den Prozeß aufgenommen werden. Die Angeklagten seien während ihrer Aussage nicht belehrt worden. Im Klartext heißt dies: Ihre, wie die Staatanwältin vermuten ließ, sie jetzt belastenden Aussagen, bleiben unverlesen zwischen den Aktendeckeln.

Die in den Zeugenstand gerufenen SED-Oberen hatten hingegen entweder große Erinnerungslücken oder beriefen sich auf die aus Dresden bekannte Methode von Egon Krenz: Es habe lediglich die „politische Zielstellung“ gegeben, so Karl-Heinz Falkenstein, erster Sekretär der SED-Stadtleitung, anläßlich des 40. Jahrestages der DDR das „beste Ergebnis“ einzufahren. Wie die Steigerung des Halleschen Ergebnisse von 1984, das bei 99,96 Prozent Ja-Stimmen lag, zu erreichen gewesen sei, wußte der SED-Stadtchef auch nicht, vor allem weil ihm auch die „heikle Stimmung“ in der Stadt nicht verborgen geblieben war: „Wir wollten die Menschen eben überzeugen“, durch Agitation und „Gespräche mit den Bürgern“.

„Überlegene Demokratie“

Propagandistische Rückendeckung im alten Stil bekam er von seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem SED-Bezirkschef und Politbüromitglied, Achim Böhme, der wiederum gewisse Wunschvorstellungen „von oben“ entgegennahm.

Böhme erinnerte sich an „120.000 Gespräche“ im Wahlkampf und rühmte in nicht zu überbietendem Zynismus die Vorzüge des DDR- Wahlrechts: „Bei uns wurde bewußt offen gewählt. Wir hielten das für die überlegenere Form gegenüber der bürgerlichen Demokratie.“ Ihm sei nicht bekannt, daß je ein Ergebnis geschönt worden sei oder bereits vorher festgestanden habe. Phrasen, wenn auch provinzielleren Zuschnitts, wie sie auch in Dresden zu hören waren. Ohne das Vorgänger- Verfahren in Dresden wäre der Prozeß in Halle kaum möglich. In Dresden wurde das Signal gegeben: Sowohl was das Urteilsmaß betraf, das zwar eine Mittäterschaft, aber keine Urheberschaft anerkannte, den Tatbestand des Wahlbetrugs in der DDR hingegen auch unter heutigem bundesdeutschen Recht für justitiabel erklärte.

Die momentane Verhandlung am Kreisgericht in Halle ist bereits der dritte Anlauf; Ende November 1989 stellte Matthias Waschitschka, schon vor der Wende ein bekanntes Mitglied der Halleschen Opposition, Strafantrag wegen Wahlbetrug beim damals noch amtierenden SED- Staatsanwalt des Bezirks Halle. Grundlage seiner Klage war ein offener Brief an die damaligen Stadtverordneten von Halle, in denen Bürgerbewegte schon kurz nach der Kommunalwahl „ihre Ergebnisse“ protokollierten. Die Bürgerrechtler beobachteten die Auszählung von 41 der 208 Wahllokale. Ihre Hochrechnungen ließen sie berechtigterweise am offiziellen Wahlergebnis zweifeln: Über 10.000 Gegenstimmen registrierten sie, während das Gesamtergebnis für alle Wahllokale lediglich 2.200 betragen haben soll.

Dritter Prozeßversuch

Am 26. Juni 1990 schließlich kam es zur ersten Prozeßeröffnung gegen die Angeklagten. Die Verhandlung dauerte einen Tag, dann erklärte sich der erst 25jährige Richter für befangen. Was folgte nennt Waschitschka, dessen „Seele an diesem Prozeß hängt“, schlicht „Verschleppungstaktik“. Am 27. September— neuer Richter, neue Staatsanwälte— wurde wieder verschoben. Begründung: Mit dem 3. 0ktober werde DDR-Recht durch bundesdeutsches Recht abgelöst. Waschitschka, mittlerweiler Abgeordneter der Grünen Liga im Stadtparlament und Vizepräsident der Stadtverordnetenversammlung, ließ nicht locker, mahnte öffentlich den Prozeßbeginn an. Jetzt, so glaubt er, geht „sein Traum“ in Erfüllung (siehe Interview): Die „geistigen Urheber“ sollen ermittelt werden. Die halleschen Angeklagten seien nur Ausführende gewesen, „die jetzt im eigenen Interesse zur Wahrheitsfindung beitragen müssen“. Die Staatsanwaltschaft in Halle hat weitere Ermittlungen gegen SED-Spitzenfunktionäre angekündigt.