Jelzin rettet sich über die Runden

Moskau (taz) — Auch den zweiten Tag des 6. Russischen Volksdeputiertenkongresses hat Präsident Jelzin ohne Blessuren überstanden. Zunächst gab es Befürchtungen, die konservative Mehrheit der Deputierten könnte ihn in die Mangel nehmen und der Öffentlichkeit eine peinliche Vorstellung der wirtschaftspolitischen Rudimentärkenntnisse des Präsidenten bescheren. Am Vortag hatten die Abgeordneten ausdrücklich einen Bericht Jelzins verlangt und einen Auftritt des eigentlichen Architekten der Reform, Jegor Gaidar, strikt abgelehnt. Der Präsident muß diese Aufgabe nur ungern übernommen haben. Denn er kam dem Wunsche der Volksvertreter erst am nächsten Morgen nach, um sich nachts wohl noch mit einigem Sachverstand ausstatten zu lassen.

In seiner Rede sagte er denn auch nichts wirklich Neues. Er bekräftigte noch einmal seine Entschlossenheit, den Reformkurs gegen Widerstände fortzusetzen, und erinnerte die Abgeordneten daran, daß sie es schließlich selbst gewesen seien, die beim letzten Kongreß für Reformen gestimmt hätten. Sein abgelesener Vortrag und zahlreiche Anläufe, um die Termini technici ohne Stottern und Zwangspausen zu überwinden, offenbarte, welch fremden Boden er betreten mußte. Der Vortrag war klug angelegt. Nur das erste Drittel der einstündigen Rede widmete er der Wirtschaft, hier und da mit einigen Versprechungen garniert. Der Agrarsektor soll mehr Zuwendungen erfahren, Lehrer, notorische Niedrigverdiener, können mit einer Gehaltsaufbesserung rechnen. Ab 1. Juli werden die Bezüge aller Beschäftigten dem Lohnniveau der Industriearbeiter angepaßt. Schwachen Beifall erntete Jelzin, als er sich zum „ideellen Gesamtrussen“ machte: „Wir brauchen Millionen von Eigentümern, nicht einige hundert Millionäre.“ Mit aller Entschlossenheit sprach er dann zur geplanten Verfassungsreform und forderte den Kongreß auf, seine außerordentlichen Vollmachten als Präsident zu bestätigen: „Alles andere würde das Land ins Chaos stürzen.“

Das Timing war strategisch ausgezeichnet. Den Fragestellern blieben anschließend nur noch 25 Minuten bis zur Mittagspause. Am Nachmittag hatte eine knappe Mehrheit die Lust verloren, den Präsidenten weiter zu befragen. Die orthodoxe Opposition, deren sechs Fraktionen sich im Block „Russische Union“ zusammengeschlossen haben, bewiesen einmal mehr, daß es ihnen an Geschlossenheit und politischem Verstand fehlt. Letztlich können sie trotz aller Kritik dem jetzigen Regierungskurs keine Alternative entgegensetzen. Am Ende des Kongresses werden die meisten von ihnen sich so entscheiden, wie es für ihr persönliches Fortkommen am einträglichsten erscheint — Fraktion hin oder her. Klaus-Helge Donath