: Die Routinen der Freiheit
Peter Kowald: Schlüsselfigur der europäischen Free Music — eine Retrospektive ■ Von Christoph Wagner
Ein sonniger Märztag in Downtown Manhattan: keine Treppe, nur ein klappriger Lastenaufzug führt in dem ehemaligen Lagerhaus nach oben. Im dritten Stock ist ein kleines Plattenstudio eingerichtet. In den Räumen herrscht Enge; jeder Winkel ist mit Equipment und Studiomaterial vollgestopft. Im Gang versucht Zeena Parkins, ihre Harfe zu stimmen. Die schwarzen Schlagzeugteile von Andrew Cyrille stehen übereinandergeschichtet herum. Eine Freejazz-Plattensession steht heute auf dem Terminplan. Im Kontrollraum machen sich Tom Cora und Fred Frith mit den Apparaturen vertraut. Es herrscht Arbeitsatmosphäre. Man dreht an Knöpfen, legt die Bänder ein, fummelt an Kabeln herum. Peter Kowald, der Initiator der Aufnahme- Sitzung, ist mit seinem Baßsound nicht zufrieden. Er hat dazu seine eigene Theorie. Er meint, die billigeren Mikrophone würden den Klang am natürlichsten abnehmen. Verschiedene Mikros werden so lange durchgetestet, bis man fündig wird. Die Aufnahmen können beginnen. Es werden nur Duos gespielt — so das Konzept: Kowald plus one. Tom Cora, einer der führenden Cellisten der New Yorker Avantgarde, ist sein erster Partner. Die beiden kennen sich gut. Sie haben schon des öfteren miteinander musiziert. Deshalb macht das Zusammenspiel keine Probleme. Obwohl nichts abgesprochen ist, klappt die Kommunikation auf Anhieb. Cora legt garstige Sounds vor. Er läßt sein Cello ächzen und knarren. Kowald knetet dazu seine Baßsaiten. Mit Unterbrechungen dauert die Plattensitzung fast bis in den Abend: fünf Stunden Aufnahmen mit vier verschiedenen Partnern. Studiozeit ist teuer, und Geld ist im Freejazz Mangelware. Kowalds Budget ist knapp kalkuliert.
Das war vor sechs Jahren — Ostern 1986. Der Wuppertaler Freejazz-Bassist Peter Kowald hatte gerade mit einem Plattenprojekt begonnen, das ihn bis Anfang 1992 beschäftigen sollte. Bis alle Aufnahmen „im Kasten waren“ — wie er es nennt — spielte er noch Dutzende solcher Duos, mit Musikern, die in den letzten 25 Jahren seine Wege gekreuzt hatten und für seine musikalische Entwicklung wichtig geworden waren. Aufnahmen, die — was Europa anbelangt — in Berlin, Kopenhagen oder Athen entstanden sind und die Creme der improvisierenden Avantgarde der alten Welt versammelten: den deutschen Saxophon- Berserker Peter Brötzmann neben dem Schlagwerker Han Bennink aus Holland, den Posaunisten Conny Bauer (Ex-DDR) sowie die Zürcher Pianistin Irene Schweizer, des weiteren die Briten Evan Parker (Saxophon) und Derek Bailey (Gitarre) und noch einige mehr. Andere Platteneinspielungen wurden in Tokio getätigt, wobei der Wuppertaler Bassist neben Japans Experimentaljazzern wie Toshinori Kondo, Akira Sakata oder Masahiko Kono auch klassische Musiker mit traditionellen Instrumenten heranzog. Es gab nur eine Voraussetzung: Sie mußten offen genug sein, sich auf Neues einzulassen.
Was Kowald von Anfang an im Kopf hatte, war die Vision eines Dreiplatten-Albums, das einen Querschnitt seines bisherigen musikalischen Schaffens zeigen sollte. Die geographische Herkunft seiner musikalischen Partner diente ihm dabei als Struktur. Jeweils auf einer Platte sollten im Zusammenspiel mit ihm Improvisatoren aus den USA, Japan und Europa zu hören sein, wobei ein bildender Künstler des betreffenden Landes bzw. Kontinents das jeweilige Plattencover gestalten würde. Dieser übergreifende künstlerische Aspekt war für ihn von solcher Bedeutung, daß der Wuppertaler Bassist bis zuletzt am Medium der Schallplatte festhielt, obwohl die Compact Disc zwischenzeitlich längst zum Marktführer avanciert war. Denn ohne Frage: für eine künstlerisch ambitionierte Covergestaltung ist das CD-Format zu klein.
Mittlerweile liegt nun das gesamte Mammutunternehmen vor. Über fünfzig Duos mit mehr als dreißig verschiedenen Partnern füllen drei Langspielplatten und eine CD (wobei nur 3 Tracks identisch sind). Das war der Kompromiß zwischen den Markterfordernissen und den Gesamtkunstwerkambitionen, zu dem man sich nach langem Hin und Her letztlich durchrang.
Was einem auf diesen Platten entgegentritt, ist eine Art Zwischenbilanz — die vorläufige Summe eines deutschen Freejazzer-Lebens. Allerdings handelt es sich dabei nicht einfach nur um eine Peter-Kowald- Retrospektive. Vielmehr wird an Hand seiner Person die kurze Geschichte der frei improvisierten Musik in Europa rekapituliert, die sich mehr und mehr international ausrichtete. Kowald, geboren 1944 in Massenburg/Thüringen, fing mit 16 Jahren das Baßspielen an. Einige Zeit später — Anfang der sechziger Jahre — mischte er im freien Jazz bei Peter Brötzmann mit, um sich alsbald in die spontanen Improvisations-Experimente des Pianisten Alexander von Schlippenbach einzuklinken. Kowald wurde Gründungsmitglied des Globe Unity Orchestras, einer Bigband, die für die freie Improvisationsmusik in Europa wie ein Katalysator wirkte. Seit diesen Pionierjahren war er in die vielfältigsten Projekte involviert, wobei sein grenzüberschreitender Impetus immer wieder hervortrat. Er liebt es, mit Vertretern anderer Kunstsparten zu kooperieren. Ob Tanz oder Tanztheater (etwa mit Pina Bausch), Kowald suchte immer den interdisziplinären Brückenschlag. Ansonsten durchquerte er mit seinem klapprigen Renault 4 — den Baß im Heck — halb Europa, um unzählige Solokonzerte zu spielen. Daneben initiierte er eigene Ensembles, war Mitglied diverser Formationen und entwickelte dabei ganz allmählich und behutsam seine eigene Art, den Baß zu spielen. Den konventionellen Techniken des Zupfens und Streichens fügte er Ausdrucksweisen hinzu, die mittlerweile zu seinem Markenzeichen geworden sind. Kunstkniffe, wie die gestrichene Oktave mit tiefem Singen oder das Schnappenlassen des Bogens zwischen den Saiten. Diese Techniken nennt er sein »Material«. Es sind abrufbare Spielformen, die verdeutlichen, daß auch im freien Jazz nicht
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alles der augenblicklichen Intuition entspringt.
„Selbstverständlich arbeiten wir alle mit Routinen und die wiederholen sich. Das geht gar nicht anders. Man kann nicht jeden Tag etwas Neues erfinden. Wer das versucht, arbeitet vom Kopf aus mit Ideen — und nicht von innen heraus. Es gibt sehr viele Dinge, die ich wieder und wieder tue. Aber daß war bei Coleman Hawkins nicht anders. Und dazu kommt dann der kreative Anteil, Sachen zu machen, die man zuvor noch nie gespielt hat«, räumt Kowald mit den Freejazz-Mythen der totalen Freiheit auf.
Eine Zäsur in seiner Karriere markierte der einjährige Aufenthalt in New York, der ihm 1984 durch ein Stipendium ermöglicht wurde. Dabei gelang ihm endgültig der Durchbruch aufs internationale Parkett. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich tief in die freie Improvisationsszene Manhattans hineingearbeitet. Er musizierte mit vielen der bizarren Innovatoren und Jazzerneuerer der Lower East Side, dem damaligen Zentrum des musikalischen Undergrounds, egal ob mit Musikern der aufkeimenden New-Music-Szene um John Zorn und Fred Frith oder mit schwarzen Newjazzern vom Schlage eines Jimmy Lyons, Jeemel Moondoc oder Billy Bang. Geld war dabei wenig zu verdienen. Man spielte in kleinen Cafés und Galerien, manchmal für nichts, ein andermal für ein paar Dollar. Reich kann man mit freiem Jazz nicht werden — höchstens reich an musikalischer Erfahrung. „Every day is a struggle“ singt die Vokalistin Jeanne Lee vom Überlebenskampf der Musiker in New York (In these last days, auf der Kowald-CD), und unmerklich schwillt dieses Lebensgefühl zur allgemeinen apokalyptischen Metapher an.
Am Ostersonntag, den 31. März 1986, ist in Brooklyn eine zweite Aufnahmesession anberaumt. Jeanne Lee und der Kornettist Butch Morris haben sich angesagt. Diesmal steht nicht die spontane musikalische Interaktion auf dem Programm, sondern man hat sich vorbereitet. Ein paar Stunden hat Kowald mit der schwarzen Sängerin zuvor an einem Nachmittag geprobt. Die beiden testeten Klangkombinationen, suchten nach Strukturierungspunkten, nach der stimmigen Form für ein kurzes Stück. Kowald machte sich Notizen. Er will den Überblick behalten und damit der Gefahr entgehen, sich musikalisch zu wiederholen, was bei einer solchen Langzeitunternehmung leicht passieren kann. Dann wird die Probe abgebrochen. „Zu viele Absprachen zerstören die Spontaneität“, sagt Kowald. „Man muß der Freiheit ihren Raum bewahren.“ Später im Studio wird das Konzept dann doch wieder über den Haufen geworfen. Man musiziert jetzt einen konventionellen Blues und Kowald spielt, was er selten genug tut, traditionelle Walking-Baß-Läufe. Und plötzlich fängt der Freejazz zu swingen an. In den Pausen der Plattensitzung hängt der Wuppertaler fortwährend am Telefon. Er telefoniert hinter dem Maler Jean Michel Basquiat her, den er für eine Covergestaltung gewinnen will. Als Kowald ihn schließlich an der Strippe hat, lautet die erste Frage von der Gegenseite: „Hat das was mit Geld zu tun?“ Kowald erläutert das Projekt. Basquiat willigt in ein Treffen ein. Zu einer Zusammenarbeit kommt es allerdings nicht mehr, obwohl der New Yorker Künstlerstar prinzipielles Interesse signalisiert hatte. Sein früher Aids-Tod macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Trotzdem hat Kowald — in memoriam — ein Basquiat-Bild für das Cover der America-Platte ausgewählt. A.R. Penck hat die Front der Europa-LP gestaltet und auf der Hülle des Japan-Albums ist ein Gemälde des Japaners Yuichi Inoue zu sehen. Alle drei Arbeiten zeichnen sich durch ihr enges Verhältnis zur Musik aus. Darin liegt die Klammer. Kowald hat einmal gesagt: „Die Strukturen, die wir spielen, sind gar nicht so weit entfernt von dem, was bildende Künstler entwickeln.“
Discographie: Peter Kowald
Duos Europa. FMP (LP) 1260
Duos America. FMP (LP 1270)
Duos Japan. FMP (LP) 1280
Peter Kowald — Duos Europa/America/Japan. FMP cd 21 (Vertrieb: Helikon, Heruauerweg 21, 69 Heidelberg)
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