piwik no script img

Celler Bürger jagten KZ-Opfer

■ Im April 1945 lieferte die Celler Bevölkerung fliehende KZ-Insassen den Nazis aus

Als die britischen Truppen am 12. April 1945 die niedersächsische Stadt Celle besetzten, fanden sie eine von Kriegseinwirkungen unversehrte historische Fachwerkstadt vor. Erst später fanden sie eine Kasernenanlage, und was sie dort sahen, beschrieb ihr Chronist als „a Belsen in microcosm“ eine Kleinausgabe jenes Konzentrationslager Bergen-Belsen in der Nähe der Heidestadt Celle: Mehrere hundert Tote und Sterbende, um die sich allem Anschein nach niemand gekümmert hatte. Im April 1992, im Jahr des 700jährigen Bestehens der Stadt Celle, gedachten die Stadtväter endlich der Opfer und weihten ein mit 25.000 Mark preisgekröntes Mahnmal des Künstlers Jonny Lucius aus Bad Neuenahr ein.

Als das Konzentrationslager Drütte, in der Nacht vom 7. auf den 8. April geräumt wurde, sollten 4.000 Männer, Frauen und Jugendliche von der SS in Güterwaggons nach Bergen-Belsen geschafft werden. Auf dem Celler Güterbahnhof kam es dabei zu einem längeren Aufenthalt. Gerade an diesem Tag aber hatte die 9. US-Luftflotte die Celler Bahnanlagen zum Ziel eines Großangriffs bestimmt.

Im Inferno des Bombenhagels und explodierender Munition aus einem anderen Zug kam die Hälfte der Häftlinge aus Drütte ums Leben. Die Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht, großenteils vergebens. Sofort nach dem Einschlagen der ersten Bomben hatten die den KZ-Zug begleitenden SS-Wachmannschaften das Feuer auf die Davonlaufenden eröffnet. Unter den Augen der Bevölkerung irrten ausgemergelte und blutüberströmte Gestalten durch das heile Fachwerkstädtchen. Nicht wenige Bürger jagten sie aus ihren Häusern in die Arme der Häscher. Nicht nur SS und SA, sondern auch Polizei, Volkssturm, Feuerwehrleute und Dutzende von Bürgern zogen tagelang in Greifkommandos durch die Straßen und schossen wahllos entflohene KZ-Häftlinge nieder. 1.100 von ihnen wurden bei der Menschenjagd lebend aufgegriffen und auf einem Sportplatz gefangengehalten, 30 zur Exekution bestimmt. Die Hälfte der Überlebenden wurde zu Fuß nach Bergen-Belsen geschickt, der Rest in eine Celler Kaserne gepfercht. Dort fanden sie die britischen Truppen.

„Ähnliches wie in Celle geschah im Zusammenhang mit der Räumung von Konzentrationslagern auch andernorts, nirgends aber wohl in diesem Umfang“, fand der von der Stadtverwaltung 1990 beauftragte Historiker Mijndert Bertram heraus. „Die Vorgänge von Celle können als exemplarisch für die Verrohung und Gewalttätigkeit betrachtet werden, die vom Nationalsozi-

alismus ausgingen. Die historische Aufarbeitung des Themas konnte erst jetzt erfolgen, weil aufgrund der Schmuckkästchen- Idylle Celle die abscheulichen und daher unangenehmen Vorkommnisse verschwiegen worden sind“, stellte Bertram fest.

Gleichwohl wird das stählerne Mahnmal mit einem Laubbaum in seiner Mitte auch in Zukunft die Celler Bürger schonen: Neben dem Hinweis darauf, daß die KZ- Häftlinge Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft wurden, wird es noch eine Bronzetafel mit einer kurzen Schilderung der Menschenjagd geben. Wehrmacht, Polizei, NSDAP und Volkssturm werden als Täter benannt — nur die Beteiligung der Zivilisten wird verschwiegen. Als deswegen aus den Reihen der Mahnmal-Preisrichter Kritik laut wurde, stellten die Stadtväter „bedauernd“ fest, „daß der Text aufgrund eines unumstößlichen Beschlusses des Verwaltungsausschusses nicht mehr geändert werden“ könne. Karin Toben

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen