piwik no script img

Vom Beobachten fremder Leute

Im Gegensatz zu anderen Künsten sind in der Fotografie häufig einzelne Bilder bekannter als ihre SchöpferInnen. Lisette Model erging es nicht anders mit ihrer Aufnahme einer Badenden am Strand von Coney Island, zwischen 1938 und 1941. Daß in Europa ein Krieg wütete, ist dem Bild nicht zu entnehmen. Die Frau beherrscht das Bild gänzlich. Mit ihren im Schlick eingesunkenen Füßen steht sie vornübergebeugt, den Rücken zum Meer gewandt. Sie fühlt sich offenbar in ihrem massigen Körper zu Hause, und ihr Lachen wirkt ansteckend. Der Anblick dieser Frau fasziniert, weil er ihre Lebenslust erahnen läßt und nicht verklebt wird von einem Abziehbild gängiger Schönheitsvorstellungen. Fühlte sich die Badende unbeobachtet? Lisette Model fotografierte sie ein zweites Mal, dieses zeigt die Frau auf die Kamera reagierend. Sie selbst animierte die Fotografin zu den Fotos. Bei der Badenden handelt es sich also um einen gestellten, aber echt wirkenden Schnappschuß, das Bild wurde vielleicht deshalb so berühmt, weil es eine Lust befriedigt, die häufig — aber nicht in diesem Fall — peinlich berührt: das ungenierte Beobachten fremder Leute. Lisette Model fand Möglichkeiten, mit ihren Arbeiten nicht nur das Auge zu bedienen, sondern auch Gefühle und Stimmungen zu transportieren und Lebenswelten erahnen zu lassen.

Die von Ann Thomas (National Gallery of Canada, Ottawa) entwickelte Ausstellung wird von einer umfassenden englischsprachigen Publikation begleitet (am Schriftenstand des Museums erhältlich). Einzige deutsche Station dieser Ausstellung, die von Ottawa aus durch Kanada und die USA wanderte, ist das Museum Ludwig in Köln. Mager fiel der deutsche Katalog aus: zwei kurze Texte, von denen keiner speziell auf Models Arbeitsweise eingeht, auch Bildanalysen fehlen; die Bildauswahl ist dürftig und geschmäcklerisch.

Die Bildauswahl der Ausstellung dagegen ist umfassend und faszinierend. Leider werden die Fotos wie empfindliche Zeichnungen im Schummerlicht präsentiert. Durch diese gedämpfte Stimmung verlieren sie an Vitalität. Bewegte Bar-, Straßen- und Strandszenen passen einfach nicht in die gediegene Atmosphäre eines gruftähnlichen Kabinetts.

Die 1901 in Wien geborene Schönberg-Schülerin Lisette Model, die am liebsten Sängerin und Pianistin geworden wäre, ging nach dem Tod ihres Vaters Victor Seybert nach Frankreich, wo sie zwischen Paris und dem Wohnort ihrer Mutter Felicie, Nizza, pendelte. 1933/34 bewirkte ein Gespräch mit Hanns Eisler, der ihr, der Halbjüdin, riet, etwas Handfestes zu lernen und bald zu emigrieren, daß sie sich der Fotografie zuwandte. Bei ihrer Schwester Olga lernte sie die Dunkelkammerarbeit, bei Rogi André, André Kertész' erster Frau, die Grundsätze des Fotografierens.

Schon in ihren frühen Fotos hat sie ihre Sichtweise vollständig ausgeprägt. Sie zeigen gutbetuchte Urlaubsgäste in Nizza, in weißen Korbsesseln sitzend auf der Promade des Anglais. Model wählt einen niedrigen Augenpunkt, hält die Linse in Augenhöhe der Abgebildeten, was eine bezeichnende Verzerrung zur Folge hat. Die Gesichter werden zu Charaktermasken, repräsentieren ihre Klasse; ihr Nichtstun ist Langeweile, kein „dolce far niente“. Einige beobachten argwöhnisch das Hantieren der Fotografin, allerdings ohne etwas dagegen zu unternehmen. Models Aufnahmen zeigen keine Handlungen und haben eigentlich auch keine Pointe. An August Sanders dokumentarische Bildnisse erinnert das Typisierende, ohne seiner Sozialromantik zu erliegen. Model teilt auch nicht sein enzyklopädisches Interesse.

In Paris und Nizza porträtierte sie auch arme Leute. In diesen Bildern, in denen sie sich wiederum zumeist in Augenhöhe begibt — und das bedeutet im Einzelfall, sich aufs Straßenpflaster zu legen —, findet sich wenig bissig Satirisches, eher eine gegenseitige Sympathie.

Nach ihrer Heirat mit dem russische Maler Evsa Model ging sie 1938 nach New York. Dort lebte sie in einem Viertel, das Model so fotografierte, daß es mehr an Paris denken läßt als an Amerika.

Später entwickelte Lisette Model in New York neue Ideen. Ihre Bilder fingen Bewegungen ein und hielten das Menschengewühl fest. Gleichzeitig begann sie zu experimentieren. Eine Serie zeigt Beine vorübergehender PassantInnen. Die Fotos sind formal sehr anspruchsvoll, etwa wenn ein einzelnes Frauenbein das Bild nahezu senkrecht teilt, indem es von Schattenlinien waagerecht geschnitten wird. In solchen Koordinatenlinien wird die Bewegung sichtbar, die allen FußgängerInnenn gemeinsam ist. Vor dem Kameraauge verschwinden die Unterschiede der Menschen beinahe, die nur in den Details erhalten bleiben, beispielsweise in der Qualität der Schuhe. Fotografisch spannender noch sind Models Experimente mit spiegelnden Schaufensterscheiben. Mittlerweile ist es ein alter Hut, auf diese Weise den Unterschied zwischen Innen und Außen und zwischen Vor- und Hinter-dem-Spiegel aufzuheben. Damals, zwischen Surrealismus und subjektiver Fotografie, war dieses Mittel unverbraucht, und die Fotos hatten ihren Witz. Nachdem Model 1949 von Ansel Adams die Klasse an der California School of Fine Arts übernommen hatte, begann sie eine weitere Karriere als Dozentin für Fotografie, die sie bis zum Ende ihres Lebens am 30.März 1983 ausfüllte. Leider machte Lisette Model es sich zum Prinzip, auf eigene künstlerische Arbeit fast ganz zu verzichten. Viel bekannter als Model selbst wurde ihre Schülerin: Diane Arbus.

Christoph Danelzik

Ausstellung Lisette Model: Fotografin 1933-83. Köln, Museum Ludwig, bis 20.April 1992.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen