Das langersehnte Ende der Pflicht

■ Neue Wege im Kunstturnen: Heute beginnt die erste Einzelgeräte-WM in Paris — nur mit Kürübungen

Maik Belle turnt wieder. Diese Tatsache grenzt an ein Wunder. Nach seinem Debüt 1987 ist das vielleicht größte Turntalent der DDR bei der Einzelgerät-Weltmeisterschaft in Paris-Bercy endlich wieder bei einer WM dabei. Maik Belles lange Leidenszeit begann mit einem Trainingssturz aus luftiger Höhe. Während der Stuttgarter WM 1989 landete der Cottbusser beim Abgang vom Reck (Höchstschwierigkeit dreifacher Salto mit Schraube) derart verkantet, daß das linke Knie förmlich aus dem Gelenk sprang. „Es war alles kaputt: Kreuzbandriß, Seitenbandriß, Kniescheibe und Meniskus demoliert“, erinnert sich der 23jährige heute wieder gefaßt an den schwärzesten Augenblick seiner Turnkarriere.

Ein erster Comeback-Versuch gut ein Jahr später scheiterte. Die Schmerzen waren wieder da. Jetzt hat sich Maik Belle wieder an sein einstiges Leistungsniveau herangearbeitet. Und das war nicht niedrig: Mit 18 Jahren gewann er bei der EM 1987 Bronze am Barren. Und dort will der „schmächtige Kleine“ in Paris weitermachen. Mit seinem wahrlich halsbrecherisch aussehenden „Belle“ am Barren, Doppelsalto rückwärts auf die Oberarme und neuen riskanten Übungsteilen steuert er wieder eine Medaille an. Seinem Trainer Gerhard Alisch ist es jedoch erst einmal wichtiger, daß er „technische Fehler bei der Landung vermeidet“, denn dann, so Alisch, „wäre das Knie endgültig kaputt“.

Mit dieser ersten Geräte-WM geht das internationale Kunstturnen endlich neue Wege. Jahrzehntelang verharrte das Turnen in seiner traditionellen Trägheit. Weltmeisterschaften zeichneten sich alle zwei Jahre durch ein viertägiges ermüdendes Pflichtprogramm aus, das sich keine andere Sportart leistet. Nur Turnfreaks konnten hundertmal wiederholten, nur in Nuancen zu unterscheidenden Handständen am Barren noch etwas abgewinnen.

Beim „Festival der Spezialisten“ darf sich jeder Turner auf seine Paradedisziplin beschränken, statt alle Geräte zu turnen. Der Andrang in Paris ist riesengroß: Für den Qualifikationsdurchgang am Seitpferd haben hundertdreißig Akteure gemeldet. Drei Starter pro Land und Disziplin, fünf insgesamt an allen Geräten, sind zugelassen. Die fünfzehn besten Kürturner der Ausscheidung sind beim Halbfinale dabei; acht Geräteakrobaten, maximal zwei pro Land, bestreiten dann das Finale. Die Weltmeister von 1991 werden, sofern sie in Paris antreten, zusätzlich für den Endkampf gesetzt. Ralph Büchner (Hannover), der amtierende Reckweltmeister, hat diesen Freiplatz ausgeschlagen. Er beherzigt die Vorgabe des Deutschen Turnerbundes (DTB), die die Olympischen Spiele Ende Juli zum Maß aller Dinge macht. „Barcelona steht absolut an erster Stelle, alles andere ist Zuarbeit“, fixiert DTB-Sportdirektor Edi Friedrich das Saisonziel. Paris komme vor Barcelona deshalb gerade recht, um das „Image an zuletzt schwächeren Geräten wie Boden oder Sprung aufzupolieren“, sagt Edi Friedrich. Den Stellenwert dieses besonderen Gerätespektakels, möglicherweise mit fließenden Übergängen zu zirkusreifen Nummern, will Friedrich erst nach Ende der WM festlegen. Ralph Büchner hat seine Wertung bereits vorgenommen — pro domo natürlich: „Den Sieger von Paris akzeptiere ich nicht als meinen Nachfolger. Der wahre Meister wird bei der Olympiade ausgeturnt.“ Nachdem „die Bank Andreas Wecker“, so beinahe huldvoll Kunstturnchef Eberhard Gienger, aufgrund einer Angina auf Paris verzichten mußte, ist neben Belle mit Jens Milbrandt (Halle) ein weiterer ehemals Langzeitverletzter entschlossen, den dominierenden GUS- Akrobaten um die Weltmeister Igor Korobschinski, Gregori Misutin und Valeri Belenki edelmetallmäßig Paroli zu bieten. Der 22jährige Sohn des Bundestrainers Klaus Milbrandt war 1990 bereits Vizeeuropameister an den Ringen und am Seitpferd. Ein Achillessehnenabriß vor einem Jahr zwang ihn zu einer achtmonatigen Pause. Ergänzt wird das Aufgebot mit dem Berliner Jan-Peter Nikiferow, mit Finalchancen am Boden, Maik Krahberg aus Halle (Sprung) und dem letzten „Wessi“ Mike Beckmann (Reck) aus Gevelsberg.

Die bedenkliche Lage des Frauenturnens im DTB dokumentiert die Alibibesetzung für Paris mit Gabi Weller und Peggy Wünsche (beide Bergisch-Gladbach), die, weil chancenlos, lediglich die Aufgabe haben, die KampfrichterInnen im Hinblick auf Olympia auch an die Teilnahme deutscher Turnerinnen in Barcelona zu erinnern. Karl-Wilhelm Götte