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1992 — das Jahr der Enttäuschungen

Auf der Jahrestagung der Osteuropabank werden die Privatisierungsprozesse skeptisch beurteilt  ■ Von Keno Verseck

Zwei Tage lang hatte sich die deutsche Delegation auf der ersten Jahrestagung der Osteuropabank (ERBD) redlich bemüht, auch in Abwesenheit des Kanzlers dessen Niveau zu halten. Finanzminister Theo Waigel glänzte in seiner Rede vor dem ERBD-Gouverneursrat mit so bemerkenswerten Erkenntnissen wie der, daß der Niedergang der Sowjetunion politische Risiken in sich berge und finanzielle Hilfe für Osteuropa notwendig seien. Und während sich germanische Presseastrologen noch quälten, aus derartigen Thesen irgendeinen Gehalt herauszupressen, wurde der größte deutsche Augenbrauenproduzent zum neuen Vorsitzenden des Gouverneursrates gewählt.

Von anderem Kaliber war freilich die mit kontroversen Bemerkungen gespickte Eröffnungsrede des EBRD-Präsidenten Jacques Attali. An die EG-Vertreter gewandt, fragte der Bankpräsident, ob sie einen europäischen Wirtschaftsraum oder politische Unruhen auf dem Kontinent wollten. Attali, der weiter für seinen Vorschlag eines gesamteuropäischen Marktes warb, forderte von den westlichen Ländern zusätzliche Unterstützungszahlungen für die osteuropäischen Staaten. Die 18 Milliarden Dollar etwa, die von der G-7- Gruppe für Rußland bereitgestellt werden sollen, reichten bei weitem nicht aus.

Ob die EBRD-Bank angesichts der schwelenden Konflikte über ihre künftigen Aufgaben hier eine Schlüsselstellung einnehmen wird, blieb auf der Tagung offen. So wollen etwa die USA die Entstehung einer neuen Super-Bank für Osteuropa vermeiden, da sie diese nicht wie IWF und Weltbank ausreichend kontrollieren können. US-Finanzminister Nicholas Brady sprach denn auch offen davon, daß es künftig eine Arbeitsteilung mit anderen multilateralen Finanzinstitutionen geben müsse.

Daß weitere finanzielle Hilfen notwendig sind, belegen auch die Schwierigkeiten bei der Privatisierung staatlicher Betriebe. Obwohl EBRD-Offizielle immer wieder betonten, daß es bisher keine Patentrezepte für den Transformationsprozeß gebe, gaben Mitarbeiter der Bank durchaus signifikante Bewertungen der Privatisierungsprozesse ab. So sei etwa die kleine Privatisierung von Hotels, Restaurants oder kleinen Dienstleistungsbetrieben in Polen, der CSFR und Ungarn ein relativer Erfolg gewesen, so die EBRD-Banker. Mehr als die Hälfte der Vermögenswerte konnten inzwischen verkauft werden.

Die große Privatisierung von Betrieben mit mehr als 100 Angestellten dagegen verlief bislang enttäuschend: Es mangelt an Investoren; die Konkursmasse bleibt liegen. Ungarn steht noch am glücklichsten da: Hier gelang es, wenigstens zehn Prozent der Unternehmen zu privatisieren. In der Ex-UdSSR hingegen sind von 30.000 bis 50.000 Großbetrieben lediglich eine Handvoll verkauft. Wenn das Tempo der Privatisierung jetzt nicht zunehme, so die Experten, werde es mehr als eine Generation dauern, bis alles Staatseigentum in Privateigentum umgewandelt sei.

Ein wesentlicher Grund für die anhaltende Erfolglosigkeit der Privatisierung sehen die EBRD-Bankern im Fehlen wichtiger Voraussetzungen: Es mangelt an einer modernen Infrastruktur, an gesetzlichen Rahmenbedingungen, an einem unternehmens- und investitionsfreundlichen Klima, an gut funktionierenden Sozialversicherungssystemen und einem Bankensektor, der dem Transformationsprozeß mit Krediten unter die Arme greift. Kritisiert werden außerdem bürokratische Hindernisse und komplizierte Privatisierungsspielregeln. Eine „Massenprivatisierung“ mit Kupons, wie sie vor allem in der CSFR praktiziert wird, sieht die EBRD-Bank mit potentiellen Gefahren verbunden, da bei den unzähligen Aktionären der Überblick verlorengehe und kein starker, kompetenter Eigentümer vorhanden sei. Länder wie Rumänien, Bulgarien, Albanien brauchen jedoch in jeder Hinsicht weitere Unterstützung, um die Privatisierung durchzuführen, am umfassendsten müsse dies in den GUS-Republiken geschehen. In einem Diskussionspapier empfiehlt die Bank den osteuropäischen Ländern, die Privatisierung so schnell wie möglich voranzutreiben, da sich sonst die Lage der Unternehmen nur weiter verschlechtern würde. Auch eine ausschließlich auf hohe Einnahmen fixierte Privatisierung, die zur Deckung der Staatsschulden verwendet werde, hält man für verfehlt. Eine gesunde Wirtschaft würde die Haushaltsprobleme lösen helfen, deshalb sollten Privatisierungseinkünfte der Sanierung anderer Unternehmen zukommen.

Kontroversen lösten allerdings Attalis Vorstellungen aus, wie die Privatisierung verlaufen solle. „Marktwirtschaft oder eine von der Mafia beherrschte Wirtschaft“ lautete Attalis dramatisch zugespitzte Alternative. Folgt man dem EBRD- Präsidenten, dann ist eine effektive und sozial gerechte Privatisierung nicht ohne den Aufbau starker staatlicher Institutionen möglich — eine Ansicht, die nicht unwidersprochen blieb. Besonders Vaclav Klaus, Finanzminister der CSFR, attackierte eine derartige Überbetonung der staatlichen Rolle. Und Wim Kok, niederländischer Finanzminister und bis gestern Vorsitzender des Gouverneursrates, wehrte sich dagegen, Restrukturierung und Privatisierung gegeneinander auszuspielen. Eine Restrukturierung von Unternehmen dürfe nicht angewendet werden, um die Privatisierung zu vermeiden. Welche Akzente die EBRD auch immer setzen wird — Attali prophezeite, daß 1992 in jedem Fall das Jahr der großen Enttäuschungen sein werde.

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