Erster Totalverweigerer in Berlin verurteilt

■ Das Amtsgericht Berlin-Moabit verurteilte einen ostdeutschen Totalverweigerer zu vier Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung/ Erster Prozeß in Berlin nach 1945/ Rangeleien im Gerichtssaal/ Prozeßlawine rollt an

Berlin (taz) — Die Transparente von rund dreihundert Demonstranten mit der Aufschrift „Lieber Gott, gib dem Richter Mut“ hatten keinen Erfolg. Das Amtsgericht Moabit verurteilte am Montag den 24jährigen Totalverweigerer Ernst Steinhauer wegen Fahnenflucht zu vier Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Prozeßzuschauer quittierten das Urteil mit den Worten „juristisches Armutszeugnis“. Steinhauer und sein Rechtsanwalt Hajo Frings hatten auf Freispruch plädiert, die Staatsanwaltschaft eine Geldstrafe von 8.000 DM gefordert.

Das Strafverfahren stellte in zweifacher Hinsicht eine Premiere dar. Einerseits war es der erste Prozeß, der seit 1945 in Berlin gegen einen Wehrdienstverweigerer angestrengt wurde. Andererseits handelte es sich bei dem Angeklagten um den ersten früheren DDR-Bürger, der sich wegen Fahnenflucht von der Bundeswehr zu verantworten hatte.

Vor Gericht räumte Steinhauer ein, seinem Einberufungsbefehl zum 1. Juli 1991 aus Gewissensgründen nicht gefolgt zu sein. Schon in der DDR habe er sich dem Wehrunterricht verweigert und dadurch Nachteile in Kauf nehmen müssen. Seine Musterung, auf die sich die Bundeswehr beruft, sei unter Zwang zustande gekommen.

„Würde die DDR noch bestehen, wäre der Angeklagte freigekauft statt angeklagt worden“, meinte Rechtsanwalt Frings in seinem Plädoyer. Er verwies zudem auf die Mauerschützenprozesse, in denen Männer verurteilt worden seien, weil sie sich strikt an Gesetze gehalten und Menschen getötet hätten. Hier solle dagegen jemand verurteilt werden, der den Mut gehabt hätte, sich einem Gesetz zum Töten zu verweigern.

Amtsrichter Mülders begründete das Urteil dennoch mit formalen Argumenten. Da es als Alternative zum Wehrdienst den Zivildienst gebe, sei die „sogenannte Totalverweigerung“ vom Grundgesetz nicht gedeckt. Der Angeklagte habe deshalb auch „nicht das Recht, sich im Rahmen einer Kampagne gegen die Wehrpflicht zu betätigen“.

Am Rande des Prozesses kam es zu mehreren Rangeleien. Jounalisten und rund zweihundert Prozeßbesucher wurde von Gerichtsdienern und Polizisten gewaltsam der Zutritt zum Prozeßsaal verwehrt. Nach Angaben von Polzisten waren dreihundert Beamte im Einsatz. Die von Rechtsanwalt Frings beantragte Verlegung in einen größeren Verhandlungssaal lehnte Amtsrichter Mülders mit der Begründung ab, dies könne zu Zeitverzögerung und „technischen Problemen“ führen.

Im Vergleich zu Totalverweigerer-Prozessen in Westdeutschland fiel das Berliner Urteil überraschend mild aus. Üblich seien Urteile zwischen sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und eineinhalb Jahren ohne Bewährung, sagte Rechtsanwalt Frings. In der Bundesrepublik seien bislang nur zwei Totalverweigerer freigesprochen worden, in der nächsten Instanz seien diese Urteile jedoch wieder aufgehoben worden. Nach Auskunft der Berliner „Kampagne gegen Wehrpflicht“ stehen in den nächsten Monaten in Berlin rund 250 weitere Prozesse gegen Totalverweigerer an. Micha Schulze