„Nach der fünften Leiche rechts rein“

Patienten einer psychiatrischen Klinik in Argentinien dienten 15 Jahre lang als „lebende Ersatzteillager“ für Transplantationen Die Enthüllungen der Presse zeigten keinerlei Wirkung: Die Anstaltsleitung hatte die Rückendeckung der Regierungen  ■ Aus Buenos Aires Gaby Weber

Torres, 60 Kilometer von Buenos Aires entfernt, ist ein blitzblankes Dorf. Für Arbeitsplätze sorgt dort allein die Neuropsychiatrische Anstalt Montes de Oca. Auf ihrem weitläufigen Gelände befinden sich die einzige Oberschule und die Kapelle. „Chicos“ (Jungs) werden die Patienten von den Dorfbewohnern genannt, nicht „Verrückte“. Umsonst oder für einen Teller Suppe schneiden die Jungs Hecken, mähen den Rasen und waschen die Autos.

Die Idylle ist in den vergangenen Wochen als „argentinisches Auschwitz“ in die Schlagzeilen geraten, und jeden Tag überbietet ein neuer Eklat das bereits Unvorstellbare. Die Anstalt mit ihren 1.200 Patienten war 15 Jahre lang ein „lebendiges Ersatzteillager“ für Transplantationen aller Art, Augenhornhäute, Blut und Babies waren stets vorrätig.

Laut der Anstaltskartei verschwanden pro Jahr etwa hundert Patienten, und weitere hundert verstarben unter ungeklärten Umständen. Insgesamt wurden im Zeitraum von 1976 bis 1991 vom Anstaltsleiter, Florencio Sanchez, 1.395 Personen als „verschwunden“ oder „geflüchtet“ erklärt und 1.321 beerdigt.

Der Hausmeister war eigenen Angaben zufolge von Dr. Sanchez in der Technik der fachgerechten Entfernung der Augen angeleitet worden. Die Produkte seiner Arbeit händigte er an eine ihm umbekannte Person aus und setzte den Toten Glas- oder Porzellanprothesen ein. Andere wurden verstümmelt auf dem anstaltseigenen Friedhof verscharrt. In manchen Fällen sind diese Operation nachweislich an Lebenden durchgeführt worden.

Seit Mitte der 70er Jahre rankten sich die makabersten Gerüchte um die Nervenanstalt. Auf der Witzseite einer Lokalzeitung fragte im vergangenen Jahr ein Autofahrer einen Ortskundigen nach dem Weg zur Kolonie. Eine Sprechblase aus dem Mund des Taxifahrers antwortete: „Nach der fünften Leiche rechts rein.“ Wie sich in diesen Tagen herausstellt, übertraf die Realität bei weitem den Scherz. Jahrelang hatte die Presse ausführlich und mit Details über die unmenschlichen Bedingungen berichtet. Doch diese Enthüllungen hatten weder in der argentinischen Öffentlichkeit noch im Justizapparat Spuren hinterlassen. Und auch heute ist von individueller oder kollektiver Scham keine Rede. Die blutrünstigen Sensationsberichte werden wohl nur bis zum nächsten Skandal die Titelseiten beherrschen.

Fünfzehn Jahre genoß die Anstaltsleitung Rückendeckung von oben: zuerst von der Militärdiktatur, dann von der Alfonsin-Regierung und schließlich von den Peronisten. Im Mai letzten Jahres hatte Menems Gesundheitsminister Avelino Porto die Anstalt inspeziert und sich hinterher in einem überschwenglichen Dankesbrief als „befriedigt“ geäußert. Seine politische Karriere blieb dadurch unberührt, er wurde gerade für die Senatswahlen zum peronistischen Kandidaten gekürt, und Menem hat alle Angrife gegen seinen Mann des Vertrauens als „politische Demagogie“ zurückgewiesen.

Bis heute nicht aufgeklärt ist das spurlose Verschwinden der Anstaltsärztin Cecilia Giubileo im Jahr 1985. Die damaligen Ermittlungen waren auf nichts Ungewöhnliches gestoßen. Im selben Jahr wurden auch das Verfahren wegen illegalen Hornhaut- und Bluthandels wegen „Verjährung“ eingestellt. 1990 brachte der Psychiater Victorio Bassotto harte Vorwürfe über unmenschliche Behandlung und Adoptionspraktiken vor. Auf dem weitläufigen Anstaltsgelände hatten die Patienten sexuelle Kontakte untereinander. Da Anstaltsleiter Dr. Sanchez Verhütungsmittel als „unmoralisch“ verboten hatte, wurden zahlreiche Insassinnen schwanger. Wie viele Babies in den 15 Jahren das Licht der Welt erblickt hatten, läßt sich anhand der Klinikarchive ebenso wenig rekonstruieren wie ihr Schicksal. Einige der Neugeborenen sollen illegal zur Adoption freigegeben worden sein, bei anderen verliert sich vollkommen die Spur. In diesen Fällen ist nicht auszuschließen, daß sie „zum Ausschlachten“ verkauft worden sind. Vor zwei Jahren war nach den Aussagen Bassottos ein Verfahren eröffnet worden. Doch es verlief, wie viele andere, im Sand; die Anstalt wurde nicht durchsucht, Unterlagen nicht beschlagnahmt, Angestellte nicht festgenommen. Die Zeugenaussagen der „verrückten“ Patienten — die wenigsten sind des Sprechens mächtig — galten als unglaubwürdig.

Erstmals in diesem Jahr begann ein Staatsanwalt die „Kolonie des Schreckens“ unter die Lupe zu nehmen, nicht wegen Menschenrechtsverletzungen sondern wegen „Veruntreuung öffentlicher Gelder“. Plötzlich erschienen in allen Bilderblättern herzzerreißende Fotos: verlauste, halb verhungerte, nackte und in Lumpen gekleidete Schwachsinnige — ein Zustand, der 15 Jahre lang keiner Kontrollbehörde aufgefallen sein will.

Montes de Oca verfüge über ein Jahresbudget von 25 Millionen Dollar, verteidigten sich die Verantwortlichen gegen den Vorwurf mangelnder Fürsorge, auf jeden Patienten entfallen monatlich 2.000 Dollar. Bei der Durchsuchung stießen die Staatsanwälte auf ein Lager, wo Hunderte von Farbfernsehern, Videoanlagen, Papier im Wert von 100.000 Dollar, eine Telefonzentrale mit 120 Nebenstellen, ein Computer im Wert von 600.000 Dollar, 25.000 Laken und 5.000 Decken für Doppelbetten (für die es in der Kolonie keine Verwendung gibt) aufbewahrt wurden. Laut der rudimentären Buchhaltung waren zwei Gebäude für 1,5 Million Dollar gestrichen worden, und 834.000 Dollar sollen für die Reparatur der Kloake verwendet worden sein.

In einem Kerker wurde ein seit vielen Jahren gefangener Patient befreit. Vor seinen Augen, so erklärte er mit fester Stimme, seien drei Patienten umgebracht worden. Er wurde gerichtsmedizinisch untersucht. Ergebnis: geistig gesund. Die drei Personen, deren Mord er mitangesehen haben will, sind tatsächlich unter „ungeklärten Umständen“ verstorben. Bisher sitzen 15 Personen im Gefängnis, etliche werden mit Haftbefehl gesucht. Der Staatsanwalt hat in Aussicht gestellt, den auf dem Anstaltsgelände befindlichen, 20 Hektar großen Sumpf auszubaggern. Doch der ist chemisch derartig verseucht, daß sich darin sogar Knochen innerhalb weniger Wochen auflösen. Die bisherigen Ermittlungen haben nicht aufgeklärt, wohin die Organe und die Babies geliefert worden sind. Wahrscheinlich werden sich diese Fragen im Sumpf der argentinischen Justiz verlieren.

In Torres will man von den Grausamkeiten nichts wissen. „Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gewußt“, beschreibt die konservative Tageszeitung 'Clarin‘ die Stimmung. Anstaltsleiter Florencio Sanchez gilt im Dorf nicht als „argentinischer Mengele“, sondern als angesehener Bürger. Wohnte er denn nicht in einem bescheidenen Häuschen, dessen Raten die Familie immer noch abstottert? „Ein wunderbarer Familienvater“ — berichten Ehefrau und Kinder, „ein Wohltäter“ — versichern die Angestellten, „ein brillanter Wissenschaftler“ — so die Kollegen. „Väterchen“ sollen ihn die Patienten nennen.