: „Die Tugend des Palavers ist groß“
■ Gastprofessor Tshiamalenga Ntumba über die afrikanische „Wir-Philosophie“
Nach Ivan Illich, J.P.S. Uberoi und Humberto Maturana ist Marcel Tshiamalenga Ntumba der dritte Gastprofessor, der für ein Semester im Rahmen der „Karl- Jaspers-Vorlesungen“ an die Uni Oldenburg berufen wurde. Der 1932 in Mbujimayi, Zaire, geborene Tshiamalenga Ntumba hat in Kinshasa, Löwen, Bonn und Frankfurt Theologie und Philosophie studiert, war Professor in Kinshasa, Witten-Herdecke und Mbujimayi und fünf Jahre lang Kaplan katholischer Gemeinden in Bonn und Düsseldorf.
Seine neunteilige Vorlesungsreihe zum Thema „Weisheit und Vernunft. Afrika im Dialog mit Europa“ beginnt am Mittwoch, 22.4. im Vortragssaal der Oldenburger Universitätsbibliothek. Die öffentlichen Vorlesungen finden jeweils mittwochs von 18-20 Uhr statt.
taz: Die europäische Philosophie hat in den letzten 300 Jahren darum gekämpft, das aufgeklärte Ich zu entwickeln. Jetzt kommen Sie und fordern eine „Wir-Philosophie“. Was hätten wir davon?
Marcel Tshiamalenga Ntumba: Natürlich verdanken wir im Abendland der Freiheit des Ich diese eklatante Zivilisation. Das ist mir völlig klar. Aber mir ist dann doch aufgefallen, daß die abendländische Philosophie weg vom Ich möchte, hin zu einer Argumentations-Gemeinschaft. Politisch interpretiere ich zum Beispiel das Zustandekommen der Europäischen Gemeinschaft als eine Art Abschied von Mikro-Nationalismen, die eigentlich auch einem Ich gleichkommen. Diese Tendenz ist selbst in Europa sehr stark.
Dann stellte ich aber fest, daß in Afrika dieses Empfinden immer schon dagewesen ist. Wohin die Europäer heute tendieren, da waren wir fast immer. Da gibt es die lange afrikanische Tradition der Großfamilie, des Palavers, den ich als Parlamentarismus bezeichnen möchte.
Aber das Palaver ist eine direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Ist das wirklich ein Modell für eine hochkomplexe Industriegesellschaft?
Das Palaver war eine Institution. Der Begriff des Palavers ist ja ein bißchen abwertend, so etwas wie Quatschen. Nein: Für sehr wichtige Anliegen der Gemeinschaft kam man zusammen und hat argumentativ beraten. Und diese Beratung ging jeder Argumentation eines Einzelnen voraus.
Mir scheint, daß man jetzt überall dort, wo das Ich eine Rolle gespielt hat, das Wir einsetzen könnte.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel in der Ethik. Da heißt es immer: Ich handle nach meinem Gewissen, ich-orientiert. Nein: Man sollte möglichst das Wir als letzte Instanz nehmen. Man beruft sich dann nicht mehr auf das eigene Gewissen, sondern auf eine gemeinsam argumentierte Lösung.
Das klingt gut, setzt aber die gemeinsam argumentierte Lösung voraus. Doch wie kommt die erstmal zustande?
Das ist doch schon längst im Gang: Demokratie. Alles wird gemeinsam beraten — im Bundestag, im Bundesrat. Und die Wissenschaftler halten Kongresse ab. Die Tugend des Palavers ist groß. Das Ich war eine Sackgasse.
Aber mit dem „Wir“ haben wir in Deutschland auch keine guten Erfahrungen gemacht. Wer schützt einen davor, daß aus der Wir-Philosophie nationaler Egoismus oder Rassismus wird.
hier den
Afrikaner
Gastprofessor in Oldenburg: Marcel Tshiamalenga NtumbaFoto: Ase
Die Philosophen, mit denen ich in Frankfurt über die Wir-Philosophie diskutiert habe — Habermas, Apel — haben mir immer wieder gesagt: Das geht nicht. Seit Hitler wollen wir das nicht mehr hören.
Afrika ist unbelastet von dieser Geschichte. Wir haben Diktaturen gehabt, Mobuto ist ein Diktator. Aber das ist ein anderes Kapitel. Die Diktaturen in Afrika waren und sind andere Formen der Kolonialherrschaft.
Die Wir-Tradition in Afrika ist ziemlich unbelastet. Und das Wir ist kein unvermitteltes Wir, sondern ein dialektisches. Das Wir ist dazu da, daß das Ich sich entfalten kann. Wenn das Wir das Ich unterdrücken würde, dann würde das Wir auch verschwinden. Also muß das Wir das Ich fördern, die Freiheit des Ich garantieren. Dann kann man von einem Wir sprechen. Eine Freiheit, die nur ichbezogen wäre, führte zum Krieg.
Das klingt versöhnungstheologisch, aber wenig realistisch. Wie steht es um die Freiheit in Zaire?
Das moderne Parlament hat auch in Zaire fünf Jahre funktioniert. Aber anscheinend war das für die Amerikaner nicht gut. Die wollten schnell an Kobalt und Diamanten kommen - ohne Parlamentarismus, nur mit einem Agenten, Mobuto, und am besten per Telefon. Europa, das Abendland, hat unsere Wir-Philosophie mehrfach zerstört. Und jetzt kommen wir nicht auf dem Weg
des Westens, sondern auf dem Weg Moskaus zur Demokratie. Für die Afrikaner ist es Gorbatschow, ein Nicht-Demokrat, gewesen, der uns die Demokratie ermöglicht hat, während die Demokraten des Westens ihre Interessen nach wie vor in der Diktatur sehen.
Sie sagten, auch in unseren Parlamenten wäre die Wir-Struktur angelegt. Wie geht es zusammen, daß diese Wir-Struktur woanders — zum Beispiel in Afrika — zur ichbezogenen Unterdrückungsstruktur wird?
Nobody is perfect. Man kann es gut meinen und sich doch gegenüber anderen Völkern, anderen Kulturen, anderen Religionen mikronationalistisch verhalten. Die Demokratie funktioniert im Abendland besser als woanders, aber gegenüber Völkern, die dem Westen nicht angehören, kann man von Demokratie nicht reden. Amerika oder Frankreich verhalten sich in Afrika wie ein Tier.
Wenn die Wir-Entwicklung, wie Sie sagen, ein so friedensstiftender Prozeß ist, wie kann sie nach außen so grausam werden?
In Afrika ist die Großfamilie eine gelebte Wirklichkeit. Ich war eineinhalb Jahre in Zaire und habe kein Gehalt bekommen. Wie hätte ich ohne die Großfamilie überlebt? Aber gleichzeitig können auch mal Stämme gegeneinander Krieg führen. Man kann als Großfamilie leben wollen und doch, weil wir fehlbare, sündige Menschen sind, manchmal egoistisch sein. Auch Bantu können mal egoistisch sein.
Das Gleiche passiert hier. Man posaunt Demokratie und Menschenrechte, aber hinter dem Rücken tut man was ganz anderes. Der Mensch ist in sich selbst widersprüchlich, jeder einzelne, Gruppen, Nationen.
Ein anderes Beispiel: Die Juden sagen: Man darf Hitler nicht vergessen. So eine Philosophie ist für mich antibobisoistisch - bobiso heißt Wir in der Bantusprache. Das zielt auf Fronten ab.
Oder auf Vermeidung von Wiederholung.
Das ist sehr theoretisch. Der eine soll für immer als derjenige abgestempelt bleiben, der mal falsch gehandelt hat. Das halte ich für keine gute Wir-Philosophie. Daß es sich nicht wiederholt, ist auch nicht dadurch garantiert, daß man die Menschen in zwei Klassen einteilt — Opfer und Täter.
Papst Johannes II kam vor einem Monat nach Dakar und hat sich ganz feierlich im Namen des Westens bei den Afrikanern für die Negerverschleppung nach Amerika entschuldigt. Wir Afrikaner waren geschockt. Wir selbst haben das schon vergessen. Wenn einer kommt und sagt: „Ich vergesse das nie“, dann klingt das für mich wie: „Ich verzeihe das nie.“ Und wer nicht mehr verzeiht, ist nicht zur Großfamilien- Grundhaltung fähig.
Fragen: Dirk Asendorpf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen