: Erinnern ohne Opfer
Über Michael Prinz und Rainer Zitelmanns Buch „Nationalsozialismus und Modernisierung“ und eine neue Indifferenz ■ Von Jeanette Jakubowski
Im vergangenen Jahr liefen auf die Vorbereitungen zum 50. Jahrestag der Wannseekonferenz, auf der die Vernichtung der Juden beschlossen wurde, auf Hochtouren. Unter den vielen Neuerscheinungen, die auch aus diesem Anlaß zum Thema Antisemitismus und Nationalsozialismus erschienen sind, befindet sich das neueste Buch von Michael Prinz und Rainer Zitelmann, ein Sammelband von Aufsätze jüngerer Historiker. Zusammengehalten werden die Beiträge von der Frage nach der Modernität des Dritten Reiches. Modernisierung oder Modernität wollen die Herausgeber, wie sie in ihrem Vorwort betonen, bewußt offen verstanden wissen. Eine Definition überlassen sie den jeweiligen Autoren. Beide Herausgeber haben schon in früheren Arbeiten — Rainer Zitelmann in einer umstrittenen, gleichwohl sehr erfolgreichen Hitler-Biographie — ihre Position vertreten. Mit ihrer Modernisierungstheorie können sie sich auf renommierte Autoritäten, vor allem Ralf Dahrendorf und David Schoenbaum — ihre Schriften erschienen in den sechziger Jahren — berufen. Und vorsorglich verweisen die Herausgeber auch gleich darauf, daß dieser Band „in der thematischen Zusammenstellung notwendigerweise noch viele Lücken“ (S. XI) aufweise. Die verschiedenen Beiträge im Buch beschäftigen sich mit tiefgreifenden Modernisierungsschüben und Kontinuitäten vom Nationalsozialismus bis in die deutsche Gegenwart auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene und im Bereich von moderner Planung.
Gleich in seinem einleitenden theoretischen Aufsatz definiert Rainer Zitelmann den Nationalsozialismus als die „totalitäre Möglichkeit der Moderne“, wobei er darauf verweist, daß „moderne Visionen... durchaus nicht human orientiert und keineswegs einem demokratischen Gesellschaftsverständnis verpflichtet“ sein müßten. Angesichts einer zunehmenden Kritik an der modernen Industriegesellschaft, auf die Zitelmann verweist, ist ein solcher Ansatz auch aus zeitgenössischem Interesse sicherlich nicht uninteressant. Eine Reihe von Beiträgen im im Buch sind so durchaus anregend, wie zum Beispiel der von Werner Durth über Architektur und Stadtplanung im Dritten Reich.
Um so bedenklicher stimmt die Ausführung. Die Opfer des nationalsozialistischen Terrorsystems führen in Rainer Zitelmanns und Michael Prinz Buch eine Randexistenz. Im Vorwort der Herausgeber werden sie überhaupt nicht erwähnt. Nur ein Artikel von Hans-Walter Schmuhl über Reformpsychiatrie und Massenmord geht auf die Gruppe der Euthanasie-Opfer näher ein. Soweit Leid, Ausbeutung und Vernichtung im Nationalsozialismus überhaupt erwähnt werden, entsteht ein unscharfes, verzerrtes, zum Teil auch falsches Bild. So meint etwa Rainer Zitelmann in seinem schon erwähnten Artikel: „...Hitler war ein vehementer Befürworter einer ,Chancengleichheit‘, die jedoch, wie alle seine sozialen und ökonomischen Zielsetzungen, nur innerhalb der ,deutschen Volksgemeinschaft‘ verwirklicht werden sollte, aus der ,rassisch minderwertige‘ Gruppen, wie zum Beispiel Juden und Zigeuner, von vorneherein ausgeschlossen waren.“ Das zynische Konstrukt dieser „deutschen Volksgemeinschaft“, mit dessen Hilfe etwa die seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Juden, die als deutsche Staatsbürger den deutschen Paß besaßen, ebenso wie ein großer Teil der hier lebenden Zigeuner, entrechtet, ausgeplündert und schließlich ermordet wurden, erläutert Zitelmann an keiner Stelle. Ebenso wurden die „Völker im Osten“ für die „Errichtung eines totalitären Sozialstaates“ zugunsten der „deutschen Volksgemeinschaft“, wie Zitelmann behauptet, nicht nur „unterdrückt“ und „ausgebeutet“, sondern schlichtweg ermordet, zum Beispiel die Kinder polnischer Zwangsarbeiterinnen in Deutschland, die für „nicht arisch“ befunden wurden, Angehörige der polnischen Führungsschicht oder die jüdische Minderheit in Polen.
Zumindest problematisch ist, daß Ronald Smelser in seinem Artikel über Die Sozialplanung der Deutschen Arbeitsfront den Nationalsozialismus an einem Modell westlich- demokratischer Modernisierung mißt, das die Bundesrepublik als westlich-demokratischen Staat und das „Deutsche Volk“ in seiner Gesamtheit von der Verantwortung für die nationalsozialistischen Massenmorde tendentiell freispricht. Modern sind nach Smelser die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungen des Dritten Reiches. Fortschrittlich sind die ehrgeizigen Sozialpläne der Deutschen Arbeitsfront (DAF), „unmodern“ und „primitiv“ jedoch in der Hinsicht, daß sie nur auf die Angehörigen der „Volksgemeinschaft“ beschränkt waren und die Sozialleistungen des Dritten Reiches von der Arbeitsleistung und politischen Zuverlässigkeit abhängig gemacht wurden. Ungenau und verharmlosend äußert sich auch Smelser über den Rassismus im 19. Jahrhundert, wenn er zum Abschluß seines Artikels konstatiert: „Und selbst im Kontext des Imperialismus war das NS-Regime — an seinen eigenen Kategorien gemessen — modern. Dies gilt besonders für die rassischen Ziele des Regimes, die weit hinausgingen über den schlichten Kolonialismus der 19. Jahrhunderts mit seinem kulturellen Vorurteil gegen vermeintlich „niedere“ Rassen, denen man trotzdem die Segnungen einer „höheren“ Zivilisation bringen mußte. Die NS-Vision von Kriegen zur Vernichtung anderer Rassen basieren auf einer pseudowissenschaftlichen Ideologie und verwirklicht als Bestandteil der offiziellen Politik, war tragischerweise ein sehr ,modernes‘ Phänomen des 20. Jahrhunderts.“
Die Vorgeschichte ist schlimmer. Schon im Kontext der Rassentheorien des 19. Jahrhunderts, auf denen der Rassismus der Nationalsozialisten basiert, konnte „niederen“ Rassen nicht die Segnungen einer höheren Zivilisation gebracht werden. Das besagt ja gerade das biologische Konstrukt das Rasse, so waren beispielsweise Juden im rassistischen Denken schon aufgrund ihrer „Rasse“ nicht „besserungsfähig“. Und: Schon in der Kaiserzeit wie dann verstärkt im Nationalsozialismus galt die Lehre von der Rasse als moderne Wissenschaft, und dies nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Das belegt unter anderem das langjährige Forschungsprojekt des liberalen Politikers und berühmten Mediziners Rudolf Virchow an deutschen Schulkindern zur Ermittlung ihrer „rassischen“ Herkunft.
Bernhard R. Kroener schreibt über die Modernisierungsprozesse in der deutschen Armee vom Ersten Weltkrieg bis zur Bundesrepublik, vor allem über das Berufsbild und die soziale Herkunft des Offiziers. Er spricht unter anderem von der „rasseideologischen Auslese“ der neuen militärischen „Funktionselite“, erwähnt jedoch nicht die jüdischen Soldaten und Offiziere des Ersten Weltkriegs und ihre Organisation, den „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“, ein Strang von Modernisierung, der im Dritten Reich bereits 1933 gewaltsam abbrach.
Der abschließende Artikel von Michael Prinz über Die soziale Funktion moderner Elemente in der Gesellschaftspolitik des Nationalsozialismus stellt sich nicht der Frage, ob Ausgrenzung, Ausbeutung und Vernichtung integrales Bestandteil des nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik gewesen sind. Auch er läßt die mörderischen Aspekte des Nationalsozialismus und die berechnende Ausbeutung „rassischer“ Minderheiten und der Zwangsarbeiter für kriegerische, aber auch soziale Leistungen des Systems — beispielsweise wurden Frauen aufgrund der Arbeitsleistung von ZwangsarbeiterInnen im Gegensatz zu England nur in sehr bescheidenem Maße für den Krieg mobilisiert — weitgehend unerwähnt und bleibt somit ebenfalls ergänzungsbedürftig.
Erschreckend ist schließlich, daß maßgebliche Autoren des Bandes stellenweise distanzlos in die unmenschliche und biologistische Sprache der Nationalsozialistischen technokratischen Mörder verfallen, die sie doch eigentlich distanziert beschreiben sollten. So formuliert unter anderem Hans-Walter Schmuhl: „Die eugenische Prophylaxe war hingegen darauf angelegt, das Übel der Geisteskrankheit an der Wurzel zu packen und in der Generationsfolge auszurotten, weshalb sie als Ersatz für die noch immer ausstehende Kausaltherapie gelten konnte.“ Er meint an anderer Stelle: „Als drittes Moment ist die fortschreitende Verschiebung innerhalb der Anstaltspopulation hin zu den chronisch Kranken zu nennen, die mit einer Verlängerung der durchschnittlichen Verweildauer auf über 2.000 Tage verbunden war, so daß der verstärkte Zuweisungsdruck nicht durch vermehrte Entlassungen ausgeglichen werden konnte.“ Und Michael Prinz schließt seinen Aufsatz im Stile eines Buchhalters des nationalsozialistischen Massenmordes mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung: „Eine Grenze jeder Historisierung des Nationalsozialismus unter modernisierungstheoretischem Aspekt liegt freilich für alle Zukunft fest: Wie kritisch man auch immer das Erbe des ,deutschen Sonderweges‘ sehen mag: der Nutzen, der in der Schwächung mancher Tradition lag, steht in keiner irgendwie begründeten Relation zu den Kosten, die diesen Prozeß zwischen 1933 und 1945 begleiteten.“
Sicherlich ist gerade in den siebziger und achtziger Jahren eine vielseitige Aufarbeitung des Nationalsozialismus erfolgt, die noch andauert, auch aus der Perspektive der Opfer. Wenn Rainer Zitelmann eine künftige Geschichtsschreibung fordert, in der „politisch-moralische Intentionen zumindest eine geringere Rolle spielen und volkspädagogische Motive durch eine distanziertere Sichtweise verdrängt werden“, damit es leichter falle, die „Modernisierungsfunktion des Nationalsozialismus anzuerkennen“, so ist ihm jedoch in einem Punkt zu widersprechen. Es geht nicht um Volkspädagogik, es geht darum, daß auch „die Wissenschaft“, gerade nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, sorgfältig mit dessen Opfern umgehen sollte: Modern waren schließlich — wie dies unter anderem die jüngsten Veröffentlichungen von Götz Aly oder Baumann zum Holocaust darlegen — auch die Vernichtungsmethoden des Nationalsozialismus, Entrechtung, Ausbeutung und technisch perfekter Mord. Das wissen wohl gerade die Überlebenden. Und unter den Folgen der Vernichtung haben, wie es die in Deutschland vielleicht noch viel zu wenig bekannte psychologische Holocaustforschung belegt, noch heute ihre Nachkommen zu leiden. Moralische Betroffenheit und wissenschaftliche Verantwortung sind dabei nicht zwangsläufig separat zu denken, sondern sollten — wie dies unlängst Wolfgang Fritz Haug auf einem Kongreß zur Problematik der wendischen Minderheit in Deutschland formulierte — in einer „Ethik des Erinnerns“ zusammenfließen. Gerade nach den Ereignissen von Hoyerswerda und den erschreckenden Reaktionen zumal der Bonner Regierung darauf erscheint ein solches Verantwortungsbewußtsein der Wissenschaft um so nötiger. Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus ohne das Leid der Millionen Opfer ist nicht möglich. Mit dieser Geschichte müssen die Nachkommen von Opfern, Tätern, Mitläufern und Indifferenten leben.
Michael Prinz und Rainer Zitelmann: Nationalsozialismus und Modernisierung . Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, gebunden, 64 DM.
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