Russisches Roulette mit Finanzhilfen

Das größte Finanzabenteuer beginnt: Internationaler Währungsfonds schätzt Zahlungsbilanzlücke der GUS-Staaten auf 38 Milliarden Dollar/ Experten beurteilen russische Reformpläne weiterhin skeptisch  ■ Von Erwin Single

Wenn am kommenden Wochenende der Internationale Währungsfonds in Washington zu seiner Frühjahrstagung zusammentritt, steht ein Thema im Mittelpunkt: der Finanzbedarf der 15 ehemaligen Sowjetrepubliken. Nachdem Weltbank und IWF in der vergangenen Woche die internen Arbeiten für die Aufnahme der neuen Staaten in die Bretton-Woods-Intitutionen abgeschlossen hatte, bleiben den Vertretern der 156 Mitgliedsländer nur noch wenige Tage Zeit, ihre Bedenken gegen das größte Finanzabenteuer in der Geschichte der multilateralen Finanzinstitutionen anzumelden. Nach Recherchen der IWF- Experten wird sich allein in diesem Jahr eine Zahlungsbilanzlücke von rund 38 Milliarden US-Dollar in den Nachfolgestaaten der Ex-Sowjetunion aufsummieren. Und dabei, so fürchten die Ökonomen, dürfte es wohl nicht bleiben: Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit, Gesetzeswirrwarr und fehlende detaillierte Reformpläne lassen eine weitere wirtschaftliche Talfahrt erwarten.

Wie ernst selbst die schlimmsten Befürchtungen zu nehmen sind, geht aus einem Bericht der IWF-Experten über die ökonomische Lage Rußlands hervor: Die Währungsreserven beliefen sich Ende Januar auf gerade noch zwölf Milliarden Dollar; die Industrieproduktion schrumpfte 1991 um acht und in den ersten beiden Monaten dieses Jahres sogar um 13,5 Prozent. Die Versorgung mit heimischen Nahrungsmitteln schrumpfte um zehn Prozent. Die Inflation erreichte im vergangenen Jahr bei den industriellen Großhandelspreisen 138 Prozent, bei den Einzelhandelspreisen und Dienstleistungen 90 Prozent. Nach der Preisfreigabe im Januar kletterten die Preise um das Dreifache. Nach den jüngsten Erhöhungen der Energiepreise Anfang April haben sich die Benzinkosten verfünffacht.

Mit einem wahren Geldsegen wollen IWF, Weltbank und die reichen Industrienationen den Wirtschaftskollaps in der ehemaligen Sowjetunion stoppen. Nach Angaben des IWF-Direktors Michael Camdessus ist der Fond bereit, den GUS- Staaten in den nächsten vier Jahren mit bis zu 30 Milliarden Dollar unter die Arme zu greifen. Die Weltbank, so deren Präsident Lewis Preston, werde vorraussichtlich bis zu 15 Milliarden Dollar zuschießen. Die G-7-Staaten hatten bereits Rußland Kredithilfen von 18 Milliarden US- Dollar in Aussicht gestellt, fünf Milliarden Mark entfallen dabei auf bundesdeutsche Hermes-Bürgschaften. Mit weiteren sechs Milliarden soll ein Rubel-Stabilisierungfonds eingerichtet werden. Die Kredite sollen bereits im Sommer fließen, bis dahin haben die westlichen Gläubigerländer sowie die Gläubigerbanken der GUS-Schuldnergemeinschaft die Zinsen für die nach letzten Weltbank-Berechnungen auf 60,6 Milliarden Dollar belaufenden Außenstände gestundet.

Daß die zugesagten Hilfen bei weitem nicht ausreichen, ist auch den IWF-Experten und G-7-Sherpas längst klar. Wie die restlichen Finanzlöcher gestopft werden sollen, wissen aber auch sie nicht. Hinzu kommt, daß die vom IWF verlangten Wirtschaftsreformen keineswegs als gesichert gelten, wie das Beispiel Rußland belegt. Nicht wenige Experten befürchten, daß Rußland weder die Voraussetzungen für einen Stablitätsfonds erfüllt, noch glaubwürdig die propagierten Reformmaßnahmen umsetzt. Zwar wurde die fixe IWF-Tour mit den üblichen makroökonomischen Auflagen versehen, doch diese werden scheinbar umgangen: Die Notenpresse laufe weiter, die Haushaltszahlen seien zu optimistisch angesetzt, und die Privatisierung komme nicht in die Gänge, so die Fachleute. Zudem mache sich in Rußland wie in den übrigen GUS-Staaten die Meinung breit, mit dem IWF-Beitritt habe man einen Rechtsanspruch auf Hilfsgelder erworben.

Doch bei allen filigranen Verhandlungen über die Geld- und Finanzpolitik scheinen die eigentlichen Probleme der GUS-Staaten eine untergeordnete Rolle zu spielen. Bereits Ende 1990 hatte eine EG-Expertengruppe konstatiert, ohne konzertierte Aktionen werde die Sowjet- Wirtschaft weiter ins Chaos treiben und das Produktionssystem auseinanderbrechen. Die Planungsbehörden büßten ihre Kontrolle ein, ohne daß der Markt an deren Stelle getreten war. „Rynok“, der freie Markt, lautete denn auch das neue Zauberwort der vom russischen Vizepremier Jegor Gaidar verordneten Schocktherapie. Die Regierung startete zu Jahresbeginn die Preisfreigabe. Das Ergebnis: die Preise kletterten, das Bruttosozialprodukt aber sank im Januar gegenüber Dezember 1991 um ganze 16 Prozent. Doch nicht der Markt, sondern die mächtigen örtlichen Torg-Behörden, denen die noch staatlichen Geschäfte unterstellt sind, bestimmten die Preise. Da ein funktionierender Wettbewerb fehle, sei die Preisfreigabe nichts anderes als eine offizielle Anpassung der Preise an die faktisch vorhandene Inflation, höhnten die Experten.

Vor allem die Privatisierung ist zum Schlüsselproblem geworden: Bereits im Sommer 1991 hatte das russische Parlament ein Privatisierungsgestz verabschiedet. Es konnte bislang nur in Einzelfällen angewendet werden, da bis vor einem Monat jegliche Ausführungsbestimmungen fehlten. Rund ein Viertel des Staatsbesitzes, vor allem kleine Unternehmen, sollen in diesem Jahr über Auktionen verkauft werden, wobei 25 Prozent der Aktien jeweils für die Belegschaften reserviert werden. Die Privatisierung der großen Staatsbetriebe, die zuvor in Aktiengesellschaften umgewandelt werden, soll erst im kommenden Jahr beginnen. Ausländische Investoren sind weiterhin rigiden Beschränkungen unterworfen. Die Regierung rechnet damit, in diesem Jahr über 40.000 Betriebe losschlagen zu können, die rund 92 Milliarden Rubel in die leeren Staatskassen bringen sollen. Welche der zum Verkauf anstehenden Unternehmen zur Ausschreibung kommen, legen die mit der Privatisierung beauftragten lokalen Kommissionen fest, die auch den Wert der Betriebe taxieren. Die Macht der Kommissionen stößt auf Kritik im Westen. Es wird befürchtet, daß die graue Privatisierung, bei der Firmen unter der Hand verschoben werden, nicht nachlassen wird. Auch der Verkauf an die Belegschaft, so befürchten West-Ökonomen, könnte die Kapitalprobleme der Betriebe nicht lösen und würde zudem die symbiotische Allianz mit dem Staat erhalten, wenn die neuen Inhaber bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten staatliche Unterstützung zum Erhalt der Arbeitsplätze verlangten. Schon jetzt beträgt die Arbeitslosenquote Schätzungen zufolge elf Prozent — mit stark steigender Tendenz. Eindringlich hat IWF- Direktor Camdessus die GUS-Staaten davor gewarnt, auf eigene Währungen zu setzen und so die letzte Gemeinsamkeit aufzugeben. Das zwischenstaatliche Produktions- und Handelssystem, das die Sowjetunion zusammenhielt, hat sich ohnehin in Luft aufgelöst, ein abrupter Übergang zu Weltmarktpreisen und Devisenzahlung könnte die Desintegration noch verstärken und zum endgültigen Wirtschaftskollaps führen. Selbst Rußland, das als traditioneller Rohstoff- und Schwerindustrielieferant nur 18 Prozent seiner Erzeugnisse in die anderen Republiken ausführt, ist nach wie vor von der Lieferung unzähliger Agrar- und Industrieprodukte abhängig. Für die Baltenstaaten macht der Intra-Handel sogar 60 Prozent aus.