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Steuermann bleibt Boris Jelzin

Der russische Volksdeputiertenkongreß endet mit der Unantastbarkeit der Person des Präsidenten/ Der Reformkurs wird fortgesetzt/ Jelzin genießt großen Rückhalt in der Bevölkerung  ■ Von Klaus-Helge Donath

Moskau (taz) — „Der Kongreß ist wie ein Koffer ohne Griff“, beschrieb der Fraktionsvorsitzende der radikalen Demokraten, Sergej Juschenkow, den Konvent des höchsten russischen Gesetzgebers: „Er ist schwer zu (er)tragen, aber man kann ihn einfach noch nicht wegwerfen.“ Trefflicher kann man nicht auf den Punkt bringen, was sich in den letzten zwei Wochen im Kremlpalast zugetragen hat. Der Konflikt zwischen einer aufsässigen Legislative, deren Legitimation noch aus kommunistischer Zeit stammt, und einer Regierung, die in den Fährnissen des Kongresses zumindest bewies, daß es für sie keine Alternative zu radikalen Reformen gibt.

Jelzin hatte einige Untiefen zu umschiffen. Die emotionalisierten Volksvertreter drohten am „Schwarzen Sonnabend“ gar, in einer Blitzattacke seine Regierung aus Amt und Würden zu vertreiben. Doch am Ende des Kongresses steht Jelzin gestärkter da denn je zuvor. Er bleibt der Steuermann — in den Kurs reinreden wird ihm keiner. Das jedenfalls gab er in seiner trotzigen Abschlußrede vor dem Kongreß den orientierungslosen Abgeordneten mit auf den Heimweg: „Rußland ist erwacht, der Lauf der Geschichte kann nicht aufgehalten werden... die Zeit der Marionettenregierungen ist vorbei.“ Diesen Hinweis verstanden alle im Saal. Wie eine Ohrfeige müssen es die konservativen Abgeordneten dann empfunden haben, als er ihnen einen Gesetzentwurf unterbreitete, der das Gegenteil von dem enthielt, worum sie die letzten Wochen verbissen gekämpft hatten: „Die russische Regierung ist ein Exekutivorgan und dem Präsidenten der Russischen Föderation rechenschaftspflichtig.“ Weiter heißt es: Der Präsident behält das Recht zur Ernennung des Premierministers, der vom Obersten Sowjet bestätigt werden muß. Versagt das Parlament seine Zustimmung, kann der Präsident seinen Kandidaten dennoch bis zu einem Jahr sozusagen als geschäftsführenden Premierminister einsetzen. Der Kongreß befaßte sich nicht mehr mit dem Entwurf. Der Oberste Sowjet wird sich nun seiner annehmen müssen.

Tatsächlich kann Jelzin sich seines Rückhalts in der Bevölkerung sicher sein. Abseits aller endlosen Debatten ist das das eigentliche Ergebnis des Kongresses: In der Gunst der Wähler ist Jelzin steil nach oben geschnellt. Seine Härte und Kompromißlosigkeit hat Eindruck gemacht, denn sie wollen Taten sehen. Der Kongreß fungierte somit nur als Katalysator eines politischen Prozesses, der außerhalb der Kremlmauern stattfindet.

Der Kongreß kämpfte mit einer endlosen Agenda. Doch brachte er nur wenig zustande. Man stritt um den neuen Namen Rußlands, das nun „Russische Föderation Rußland“ heißen wird. Die unsensiblen Abgeordneten plädierten zuerst für Rußland, ohne die Empfindlichkeiten der anderen Völker mitzubedenken. Gerade hatte der Gesetzgeber mit viel Schweiß und Müh einen neuen Föderationsvertrag zwischen den nichtrussischen Autonomien verabschiedet, da hielt das Hohe Haus den Minoritäten wieder die alte imperiale Denkweise vor Augen. Denn ein Großteil der Deputierten gehört den „Reichsbewahrern“ an, die den Zerfall der UdSSR nicht verkraften können und wollen. Die Diskussionen offenbarten, daß es dem Parlament nicht um eine perspektivische Politikgestaltung ging, sondern um die Erhaltung überbrachter Nistplätze — ideologisch und materiell. Das erklärt auch die zum Teil pathologischen Auftritte der Redner.

Einer der wichtigsten Punkte, die Diskussion der neuen Verfassung, fand nur am Rande statt. Das Projekt wurde vom Parlamentspräsidenten in erster Lesung vorgestellt, dann aber zur Weiterbearbeitung in die Verfassungskommission zurückverwiesen. Statt dessen befaßte man sich tagelang mit fälligen Ausbesserungen des alten, ausgedienten Grundgesetzes. Nur eine einfache Mehrheit konstatierte die Notwendigkeit einer „allgemeinen Konzeption der Verfassungsreformen“. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit kam nicht einmal zustande. Das Verfassungswerk roch den Volksvertretern zu sehr nach einer „aus Jeffersons Lorbeerkranz zusammengekochten“ Mixtur, wie es ein Abgeordneter in Anspielung auf die amerikanische Blaupause formulierte. Doch ein Alternativvorschlag aus ihren Reihen kam nicht.

Verschiedene Meinungsumfragen unter den etwas mehr als tausend Abgeordneten ergaben fast immer dasselbe Bild. Zwei Drittel von ihnen konnte sich mit Regierung und Reformen nicht anfreunden. Und dennoch reichte die Kraft nicht zu einem erfolgreichen konzertierten Vorgehen. Ein altes sowjetisches Phänomen kam hier zum Vorschein. Man putscht gegen die unteren Ebenen, greift aber die von mystischer Allmacht umgebene Führungsfigur nicht an. Sich dagegen zu erheben, das kann nur böse enden.

Jelzin kennt die Prädispositionen der Deputierten, die fast alle aus der Partei und dem alten Staatsapparat stammen. Schließlich war er selbst Erster Parteisekretär. Konsequent hielt er sich aus den Streitigkeiten heraus, er ließ die Abgeordneten im Ungewissen. Das erhöhte seine ihm „zugedachte“ Macht, verunsicherte und lähmte die Abgeordneten.

Das einzige, was dieses Parlament realistisch widerspiegelte, ist der Stand der gesellschaftlichen Verwerfungen in Rußland und die Unfertigkeit ihrer politischen Kräfte. Sie sind eigentlich keine neue Kraft, das kann man an den Fraktionen links wie rechts festmachen. Hinter ihnen sammeln sich — mit Ausnahme der abgehalfterten Funktionärsschicht und den mittleren Führungsebenen aus Industrie und Landwirtschaft— noch keine ausdifferenzierten sozialen Gruppen. Ihre Interessen sind partikular, teilweise bis ins Molekül aufgespalten. Forderungen, dieser Legislative nach größerer Machtbeteiligung nachzugeben, wäre ein demokratisches Sandkastenspiel, das gefährlich enden könnte. Hinter dem zu erwartenden Chaos lauerte eine bedrohlichere Gefahr für die Demokratisierung Rußlands als ein Präsidialsystem, das den westlichen Vorstellungen von Gewaltenteilung nicht ganz gerecht wird. Der Reformkurs steht und fällt mit Jelzin. Soweit die Conclusio dieses zermürbenden Kongresses.

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