: „Armut braucht keinen Paß“
■ Dritter UN-Bericht über die menschliche Entwicklung mahnt weltwirtschaftliche und weltpolitische Änderungen an/ Entwicklungsländer tragen Mitschuld an ihrer Misere/ Süd-Nord-Migration wächst
Berlin (taz) — In den vergangenen dreißig Jahren ist die Kluft zwischen armen und reichen Ländern doppelt so tief geworden. Das „wohlhabendste Fünftel“ der Erdbevölkerung bezieht im Vergleich zu 1962 heute ein 150fach höheres Einkommen als das „ärmste Fünftel“. Der beschränkte Zugang zu den Handels-, Finanz- und Arbeitsmärkten der Welt bedeutet für die Entwicklungsländer und ihre BewohnerInnen jährliche Verluste von 500 Milliarden US-Dollar — eine Summe, die dem Zehnfachen der Entwicklungshilfe entspricht, die diese Staaten erhalten.
Diese Kernaussagen trifft der gestern in Stockholm und Washington vorgestellte dritte „Bericht über menschliche Entwicklung“, der für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, „United Nations Development Programme“ (UNDP), verfaßt wurde. In dem 1965 gegründeten UNDP mit Sitz in New York (Jahresetat rund 9 Milliarden US-Dollar) — das bedeutendste entwicklungspolitische Programm der UNO — arbeiten 48 Staaten.
Der unter der Leitung des ehemaligen pakistanischen Finanzministers Mahbub ul Haq erarbeitete Report macht in erster Linie die Entwicklungsländer selbst für ihre Misere verantwortlich. Die eigentlichen Gründe für Armut und Entbehrungen wurzelten tief im nationalen politischen Handeln der sich entwickelnden Länder selbst, heißt es im Vorwort. Die globale Situation sollte „niemals als Alibi für nationale Untätigkeit herangezogen werden“. Näher begründet wird die These nicht. Immerhin konstatiert der Bericht auch, „daß ein sich verschlimmernder Druck von außen beträchtlich zu dem erschütternden Grad an menschlicher Entbehrung in der sich entwickelnden Welt beiträgt“. Der gegenwärtige Umfang an auswärtigen Hilfsleistungen reiche nicht aus, um die Situation in den armen Ländern entscheidend zu verbessern. Nur wenige Industriestaaten seien den Vorgaben der Vereinten Nationen nachgekommen, mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe auszugeben. Durchschnittlich wurden 1991 von den reichen Ländern gerade 0,35 Prozent für diesen Zweck investiert. Norwegen führt die Statistik mit 1,17 Prozent an, die USA rangieren mit gerade 0,19 Prozent ganz am Ende. weniger als 7 Prozent der Gesamthilfe, so der Bericht weiter, würden für die menschlichen Grundbedürfnisse Bildung, Gesundheitsvorsorge, sauberes Trinkwasser sowie Ernährungsprogramme ausgegeben. Eher beiläufig wird erwähnt, daß Länder mit hohen Militärausgaben doppelt so viele Hilfeleistungen erhalten hätten wie Länder mit mittleren Militärausgaben.
Der „Bericht über menschliche Entwicklung“ mahnt „dramatische Veränderungen“ an. Die Alternative sei eine weitere Verschlimmerung der Armut in der sich entwickelnden Welt und ein wachsender Druck zu massenhafter Flucht und Migration. „Man sollte niemals vergessen, daß Armut keinen Paß benötigt, um internationale Grenzen zu überschreiten“, warnt der Bericht. Umweltzerstörung, Krankheiten, politische Instabilität und Drogen ließen sich nicht durch Gesetze verbieten. Die UNDP-Autoren schlagen ein „globales Abkommen“ zwischen armen und reichen Nationen vor — mit der konkreten Zielvorgabe, daß die Entwicklungsländer bis zum Jahr 2000 die absolute Armut um mindestens 50 Prozent abbauen können. Für die Finanzierung eines solchen Vertrages sollten die weltweiten Militärausgaben jährlich um 3 Prozent reduziert werden. Allein diese Maßnahme, so die Rechnung, werfe bis zum Jahr 2000 eine „Friedensdividende“ von 1,5 Billionen US-Dollar ab. Weitere, sehr allgemein gehaltene Vorschläge, um das „globale Abkommen“ inhaltlich zu füllen, sind die Öffnung der Weltmärkte für arbeitsintensive Exportartikel der Entwicklungsländer, eine „Reform“ der Auslandshilfe sowie der Abschluß einer nicht präzisierten „globalen Schuldenvereinbarung“.
Konkret gefordert wird eine grundlegende Reform der Strukturen und Funktionen von Weltbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und anderen internationalen Finanzorganisationen. Schließlich propagiert der Bericht die Einrichtung eines „Entwicklungssicherheitsrates der Vereinten Nationen“. Ständige Mitglieder könnten China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan, Rußland, die USA sowie aus den Entwicklungsregionen die Länder Ägypten, Brasilien, Indien und Nigeria sein. Reimar Paul
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