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Die Opfer des Kalten Kriegs fordern ihr Recht

150.000 Verfahren gegen vermeintliche Kommunisten, Pazifisten und Gewerkschaften/ Elfriede Kautz saß fast ein Jahr im Knast, weil sie Kinderferienaufenthalte in der DDR organisiert hatte/ Die alten Menschen verlangen Rehabilitierung  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

„Die gleichen Rechte wie die Brüder und Schwestern in der ehemaligen DDR wollen wir“, sagt Elfriede Kautz, während sie in ihrer Wohnstube ohne Mühe unten aus dem Schreibtisch die drei dreißig Jahre alten Aktenordner herauszieht. „Im vierundachtzigsten Lebensjahr — aber fit“, scherzt die schlanke alte Frau und schlägt das erste, vergilbte Blatt einer 503 Seiten starken Anklageschrift auf. Die Anklage stammt aus dem Jahre 1961, dem Jahr des Mauerbaus, der Hochzeit des Kalten Krieges, der auch in der Bundesrepublik nicht nur nach außen, sondern ebenso im Innern gegen politisch Andersdenkende geführt wurde. Sieben Jahre lang hatte Elfriede Kautz damals im Rahmen der „Zentralen Arbeitsgemeinschaft Frohe Ferien für alle Kinder“ Ferienlager in der DDR und Niedersachsen vorbereitet und betreut. In der Anklage vom Januar 1961 sah dann die Lüneburger Staatsanwaltschaft in der Arbeitsgemeinschaft eine „Vereinigung, deren Zwecke und Tätigkeit sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik richten“. Als „Rädelsführerin“ der von der DDR-Regierung finanzierten Kinderlandverschickung verurteilte die Staatsschutzkammer des Landgerichts Lüneburg Elfriede Kautz im November des gleichen Jahres zu einem Jahr Gefängnis, das sie bis auf zehn Wochen auch absitzen mußte.

„Drüben kann jetzt jeder seine Akte einsehen, die zu Unrecht verurteilten werden rehabilitiert“, sagt die blond gelockte alte Dame und verlangt schlicht gleiches Recht für alle: „Wir — und das sind immer noch viele — sind ebenfalls Unrechtsopfer des Kalten Krieges.“ Elfriede Kautz arbeitet in der „Niedersächsischen Initiativgruppe für Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges“. Wie die meisten ihrer alten MitstreiterInnen ist sie „Kommunistin“, und dies „seit 60 Jahren“, auch wenn sie sich heute vor allem bei den Grauen Panthern engagiert und erst kürzlich zusammen mit anderen Alten Unterschriften gegen Rentenkürzungen gesammelt hat. Soziales Engagement hatte ihr selbst das Landgericht Lüneburg im Jahre 1961 bescheinigt. Den Kindern aus ärmeren Familien habe sie durch die Erholung in den Betriebsferienlagern in der DDR durchaus Gutes getan, stellte das Gericht fest. Dennoch verband das Gericht die einjährige Gefängnisstrafe noch mit einem fünfjährigen „Ehrverlust“ und mit „Polizeiaufsicht“ während dieser Zeit. Die Strafe mußte Elfriede Kautz im niedersächsischen Frauengefängnis in Vechta absitzen. „Ich hatte eine Einzelzelle mit Kübel, als Arbeit sollte ich den ganzen Tag Topflappen häkeln.“ Nach ihrer Haft erkrankte die heute so rüstige und fröhliche alte Frau schwer — an Magengeschwüren. Der größte Teil des Organs mußte operativ entfernt werden.

Mit der Forderung nach Rehabilitierung geht es Frau Kautz nicht um Geld, auch wenn sie mit einer Rente von ganzen 433Mark im Monat auskommen muß. „Scheiß aufs Geld“, schimpft sie großzügig, „der Staat soll sich bei mir entschuldigen, ich will eine Ehrenerklärung.“ Doch dazu ist weder die Bundesregierung noch die Parlamente bereit. Wie die meisten Opfer des Kalten Krieges aus der Initiativgruppe zur Rehabilitierung hat jetzt auch Frau Kautz in Schreiben und Eingaben an Parlamente und Regierungen das ihr zugefügte Unrecht geschildert. Schließlich sei schon im November 1990 auf dem KSZE-Treffen in Paris der Kalte Krieg auch offiziell beendet worden. Das niedersächsische Justizministerium antwortete Frau Kautz schlicht, sie sei „rechtmäßig in einem rechtstaatlich einwandfreien Verfahren wegen einer nachgewiesenen Straftat verurteilt“ worden. Deswegen könne sie sich auch nicht auf das im September 1990 von der Volkskammer verabschiedete Rehabilitierungsgesetz berufen. Dieses gelte zwar durch die Vereinigung für das gesamte Bundesgebiet weiter, betreffe aber nur die Rehabilitierung solcher Personen, „die im Widerspruch zu verfassungsmäßig garantierten Grund- und Menschenrechten strafrechtlich verfolgt“ wurden. Wie weit ein solcher formaljuristischer Bescheid die Realität der westdeutschen politischen Justiz in den Zeiten des Kalten Krieges leugnet, hat nicht zuletzt der ehemalige Justizminister von Nordrhein-Westfalen, Diether Posser, nachgewiesen, der im Jahre 1961 Elfriede Kautz als Anwalt vor dem Landgericht Lüneburg verteidigt hat. So heißt es in seinem Buch Anwalt im Kalten Krieg, es sei schlicht ein Fall „der unzulässigen Rechtsausübung des Staates“, ein Verstoß gegen den Artikel 103 des Grundgesetzes gewesen, daß man sieben Jahre lang Elfriede Kautz und ihre drei Mitangeklagten mit Sonderzügen der Bundesbahn mit Tausenden von Kindern in die DDR reisen ließ, um sie nachträglich eben wegen dieser Tätigkeit zu bestrafen. Die Bundesbahn, so konnte Posser belegen, hatte sich vor den Ferienreisen von der Bundesregierung sogar stets die strafrechtliche Unbedenklichkeit der Fahrten bescheinigen lassen.

Es hat im Westen des heutigen Gesamtdeutschlands im Zeichen des Kalten Krieges nach dem KPD-Verbotsurteil insgesamt etwa 150.000 poltische Verfahren nicht nur gegen Kommunisten, auch gegen Pazifisten und Gewerkschafter gegeben. „Viele der damals Verurteilten“, so sagt Elfriede Kautz, „leben heute nicht mehr.“ Diejenigen, die heute um Rehabilitierung kämpfen, haben allesamt Erstaunliches über die bundesdeutsche Justiz zu berichten. Der „Zeuge vom Hörensagen“ war in den damaligen Verfahren eher die Regel denn die Ausnahme, viele Urteile zu mehrjährigen Haftstrafen ergingen auf Grundlage von Berichten von Geheimdienstmitarbeitern, die selbst vor Gericht nicht auftraten. So etwa auch das Urteil gegen den 80jährigen hannoverschen Kommunisten Kurt Baumgarten, der ebenfalls in der niedersächsischen Initiative aktiv ist. Ähnliche Initiativen wie in Nidersachsen gibt es auch in Hamburg, Bayern und in Nordrhein- Westfalen. Die alten Herren und Damen bereiten für den 9.Mai in Essen eine zentrale Demonstration vor.

Auf Zustimmung mit ihrem Anliegen sind die westdeutschen Kalte- Kriegs-Opfer bisher nur beim niedersächsischen Bundesratsminister Jürgen Trittin gestoßen. Doch auch der mußte ihnen mitteilen, daß er leider für ihre berechtigten Forderungen keine Mehrheiten sehe.

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