: Kindergartennotstand im Westen
Weil es viel zu wenige Tagesstättenplätze gibt, haben viele Frauen, die gerne berufstätig wären, schlechte Karten. Über einen bewußt herbeigeführten Mangel und dessen Fortschreibung ■ VON HEIDI KAISER UND JÜRGEN MOYSICH
Das Kinderhaus im Sternpark ist eine unscheinbare kleine privat organisierte Kindertagesstätte im Souterrain eines Hamburger Mietshauses. Platz ist für zwanzig Kinder. Bald, wenn man neue Räume gefunden hat, sollen es siebzig oder achtzig sein. Aber selbst die würden nicht reichen. Mindestens zweimal täglich schieben sich Frauen in den Büroraum der Initiative. Die meisten haben ein kleines Kind auf dem Arm, anderen sieht man am dicken Bauch an, daß Nachwuchs zu erwarten ist. Ihr gemeinsames Anliegen ist, sich rechtzeitig für einen Kindertagesplatz anzumelden. Denn die sind Mangelware in den „alten Bundesländern“. In Hamburg räumt die Landesregierung ein, daß mindestens 1.200 Plätze fehlen, das ist fast ein Geburtsjahrgang. Und es sind nur die amtlich registrierten „dringenden Fälle“. Dabei ist die Stadt — zusammen mit West-Berlin — noch der Spitzenreiter beim Tagesstättenangebot. In der gesamten alten Bundesrepublik gibt es knapp 1,6 Millionen Kindertagesplätze und etwa acht Millionen Kinder unter 14 Jahren. Statistisch existiert also für jedes fünfte Kind ein Betreuungsangebot.
Das allein ist schon ein blamables Ergebnis für die westdeutsche Jugendhilfe. Tatsächlich ist es noch viel schlimmer. Weit über eine Million dieser Tagesplätze sind Kindergärten, in denen Eltern ihren drei- bis sechsjährigen Nachwuchs für vier Stunden am Vor- oder Nachmittag abgeben können, damit er etwas „vorschulische Bildung“ bekommt. Für kleinere und größere Kinder findet Tagesbetreuung nicht statt. In der jüngsten Altersgruppe, bei den Kindern unter drei Jahren, gibt es nicht einmal 30.000 Plätze für knapp zwei Millionen Kinder. Bei den Schulkindern sind es etwas mehr als 100.000 Betreuungsangebote; in den Grundschulen der alten Bundesländer zählt man allerdings etwa 2,5 Millionen Erst- bis Viertkläßler.
Der Notstand, der (nicht) vom Himmel fiel
In vielen Jugendämtern von Flensburg bis Konstanz ist in den letzten zwei, drei Jahren Hektik ausgebrochen. Man hat den Mangel entdeckt und macht zumindest Pläne, wie man ihm begegnen kann. Dabei wird vielerorts so getan, als ob man von einem „Babyboom“ im Westen überrannt worden sei. Tatsächlich hat man seit knapp zwanzig Jahren nicht mehr so viel Kinderwagen, Steppkes in Schneeanzügen und schwangere Frauen sehen können wie heute. Das ist nicht der Erweiterung des Erziehungsurlaubs geschuldet, sondern einer Entwicklung, die lange vorhersehbar war. In den letzten Jahren sind die geburtenstarken Jahrgänge, die Wirtschaftwundereltern bis Ende der sechziger Jahre in die Welt gesetzt haben, selbst ins Alter gekommen, in dem Kinder gemacht werden. Während die Sozialpolitiker heute schon die Zahl der Rentner im Jahre 2030 vorausberechnen, um auf die nächsten Beitragserhöhungen bei der Rentenversicherung einzustimmen, hat man diese Entwicklung nicht voraussehen können?
Es werden nicht nur mehr Kinder geboren, der Kindertagesplatz wird für immer mehr Eltern zu einer notwendigen Sozialleistung. Das Hamburger Jugendamt beschreibt die wesentlichen Punkte in seiner aktuellen Bedarfsplanung. Mehr Frauen sind aus ökonomischen Gründen auf Berufstätigkeit und damit auf Betreuungsangebote für ihre Kinder angewiesen; von noch weitgehender und voraussichtlich dauerhafter Bedeutung soll das gestiegene Bedürfnis der Mütter, sich auch im Beruf zu verwirklichen, sein; und schließlich wird auf Veränderungen der Familienstruktur verwiesen, insbesondere die Zunahme von Kindern mit „alleinerziehendem Elternteil“. Das ist alles richtig, aber auch nicht neu.
Daß Mädchen nicht mehr nach Schulzeit und kurzer Berufsausbildung den „Hafen der Ehe“ ansteuern, in jungen Jahren Mütter werden, um dann als Hausfrau Haus, Garten, Hund und Kinder zu pflegen, ist eine Veränderung, die sich spätestens Ende der siebziger Jahre durchgesetzt hatte. Frauen bekommen heute später, nach etlichen Jahren im Beruf, ihre Kinder, und sie sehen nicht ein, deswegen auf Dauer auszusteigen. Das gilt auch für verheiratete Frauen und, um so mehr, weil der Ausstieg aus dem Beruf dort oft den Einstieg in die Sozialhilfe bedeutet, für die Mütter, die sich entschieden haben, ihr Kind lieber allein großzuziehen.
Der bewußt herbeigeführte Notstand
Statt sich auf diese Entwicklungen einzustellen, hat die staatliche Jugendhilfe seit Mitte der siebziger Jahre nichts anders getan, als den Mangel zu fördern und herbeizuführen.
Beispiel eins: Anfang der siebziger Jahre wurde entdeckt, daß die Begabung von Kindern schon vor der Einschulung geweckt und gefördert werden kann. Seitdem betreibt nicht nur das Fernsehen Vorschulbildung mit Ernie, Bert, dem Krümelmonster oder der Maus. Es wurden zwischen 1970 und 1975 400.000 Hauskindergartenplätze eingerichtet, in denen ErzieherInnen Drei- bis Sechsjährige mit logischen Blöcken und ähnlichem „didaktischem Material“ auf den „Ernst des Lebens“ vorbereiten sollten. Vergessen wurde zum einen, daß mit einem vierstündigen Kindergartenbildungsangebot Eltern, insbesondere Müttern, kein zeitlicher Freiraum für die erwünschte Berufstätigkeit geboten wird. Und zum anderen brach man diese Ausweitung des Angebots nach 1975 auch wieder ab. Es wurden Plätze abgebaut. Heute wird eingeräumt, daß man mit den Bildungsreform-Halbtageskindergärten den Bedürfnissen von Kindern und Eltern nicht Rechnung tragen kann. Von den 1,4 Millionen Kindergartenplätzen in den „alten Bundesländer“ sind gerade 200.000 auf eine Ganztagsbetreuung ausgerichtet. Beispiel zwei: Während die Bildungsreform das Vorschulkind entdeckte, wurde für die ganz kleinen Kinder unter drei Jahren das Lob des Familienidylls gepriesen. Nur das Leben mit Mama zu Hause sollte der Garant gesunden Aufwachsens sein. So schrieb der Hamburger Senat 1973: Kinder sollen in den ersten drei Lebensjahren in der Familie bleiben, da sie dem kleinen Kind sehr viel mehr als das Tagesheim die Zuwendung und Geborgenheit geben kann, die es braucht ... Nur wenn sich die Berufstätigkeit der Mutter nicht vermeiden läßt ..., soll ein Platz im Tagesheim zur Verfügung gestellt werden.
Die Rechnung war ohne die Mütter gemacht worden, die — ermuntert durch die neue Frauenbewegung — ihr Recht auf Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung verlangten. Über das staatlich geförderte Modell von Tagesmüttern und von Frauen selbstorganisierten „Babyinitiativen“ wurde mit großer Verspätung bei den Jugendämtern ein Umdenken durchgesetzt. In Hamburg rückten die Politiker immerhin schon 1981 von der kategorischen Ablehnung ab. In München wurde noch 1984 in Veröffentlichungen des Stadtjugendamtes der Teufel an die Wand gemalt: Ihr Kleines, das Sie den ganzen Tag nicht sieht, hat einen Nachholbedarf an mütterlicher und väterlicher Zuwendung. 1989 war man dort dann so weit, einzuräumen, daß Förderung von Kleinstkindern auch in außerfamiliären Tagesbetreuungsformen wie Kinderkrippen, selbstorganisierten Eltern-Kind- Gruppen geleistet werden kann. Bilanz dieses langsamen Lernprozesses: Zwischen 1970 und 1986 stieg die Zahl der Tagesplätze für Kleinstkinder in der Bundesrepublik gerade mal von 18.000 auf 28.000.
Beispiel drei: Als Mitte der siebziger Jahre die Steuereinnahmen der Länder geringer und die Ausgaben für Sozialhilfe und andere Folgen wirtschaftlicher Flaute höher wurden, wurde die Tagesbetreuung zum allseits beliebten Objekt der Sparpolitik. Ein Vorwand war schnell gefunden: der „Pillenknick“, die Tatsache, daß Anfang der siebziger Jahre die Kinderzahlen zurückgingen. In Hamburg wurde 1976 einem selbstorganisierten Kinderhaus mit Hinweis auf die mangelnde „Geburtenfreudigkeit“ der Bürger die Förderung verweigert: Nach der offiziellen Bevölkerungsprognose für Hamburg wird sich die Zahl der Kinder im Alter von drei bis unter sechs Jahren und damit die Zahl der Kinder der nach den maßgeblichen Kriterien einzuweisenden und zu bezuschussenden Kinder von 1975 bis 1980 um rund 25 Prozent verringern. Auf Grund dieser Entwicklung hat die freie wie die öffentliche Jugendhilfe sich im letzten und in diesem Jahr bereits der neuen Situation angepaßt und Plätze in Tageseinrichtungen umstrukturiert und reduziert. Die Förderung oder Bezuschußung neuer Einrichtungen in dieser Region würde daher zwangsläufig zur verstärkten Stillegung von Plätzen in vorhandenen Einrichtungen oder zur Schließung solcher Einrichtungen führen. Der Beamte, der diesen Bescheid formulierte, leitet heute in der Stadt die Abteilung, die ein Notprogramm zur Beschaffung von 9.000 Kindertagesplätzen umsetzen soll.
Kurz und schlecht: Die Jugendämter sind vom Kindergartennotstand nicht überrascht worden. Sie haben ihn selbst herbeigeführt.
Der Notstand wird fortgeschrieben
Und sie können und wollen den Notstand bis zum Ende dieses Jahrhunderts auch nicht beheben. Das ist das Fazit aller „Bedarfsplanungen“, die inzwischen größere Städte in den alten Ländern vorgelegt haben. Die Methode dieser Planungen ist von Nord bis Süd recht ähnlich. Man stellt Erwägungen an, wie viele Kinder einer Altersstufe wohl Kindertagesplätze brauchen und macht daraus „Richtwerte“. Das sind auf die Kinderzahl bezogene Prozentsätze.
In Hamburg und München beispielsweise stützt sich (bei Kleinstkindern) die „Bedarfsermittlung“ darauf, daß man auszählt, wie viele Kinder einen Tagesplatz haben und wie viele auf Wartelisten stehen oder abgewiesen worden sind. Das ergibt im Norden dann einen Richtwert von 25, im Süden nur noch von 14 Prozent. Womit bewiesen wäre, daß Münchner Mütter ihre Kleinen mehr lieben als die in Hamburg. Mit jeder weiteren Bedarfsanalyse anderer Städte sinkt dieser Richtwert dann. In Saarbrücken will man die Versorgung bis 1993 von vier auf acht Prozent erhöhen, in Hannover auf 9,5, in Bremen auf 5 Prozent. Das entspricht in etwa dem Angebot für die Altersgruppe in Italien und Spanien.
Dabei ist den „Planern“ völlig klar, daß ihre Richtwerte am tatsächlichen Bedarf vorbeigehen. Das Münchner Sozialreferat ahnt, daß — ginge es nach den Wünschen der Eltern — für etwa 50 Prozent der Kleinstkinder ein Tagesplatz benötigt wird. Das Jugendamt in Saarbrücken räumt ein, daß bei einer Befragung in einem Landkreis des Bundeslandes bereits etwa 18 Prozent der Eltern den Wunsch nach einem Krippenplatz zu Protokoll gaben. In Bremen waren es 1984 sogar 38 Prozent. Konsequenzen werden nicht gezogen, man winkt ab, weil eine Erweiterung diesen Umfangs ... derzeit weder von den Planungskapazitäten noch von den finanziellen Mitteln her zu leisten sei (Jugendamt Saarbrücken). Für Kinder unter drei Jahren soll es also bei dem bleiben, was die Sachverständigenkommission der Bundesregierung zum 8. Jugendbericht 1990 feststellte: Nicht wenige Kinder, die auf zusätzliche Betreuungsorte angewiesen sind, können, wenn sie als Drei- oder Vierjährige in den Kindergarten kommen, auf abenteuerliche „Betreuungskarrieren“ zurückblicken.
Für die älteren Kinder sieht es etwas besser, aber auch nicht rosig aus. Inzwischen hat man gemerkt, daß mit der Einrichtung von vierstündig geöffneten Kindergärten als Bildungsangebot Kindern und insbesondere berufstätigen Müttern wenig gedient ist. Das reicht nicht mal aus, einer Halbtagsberufstätigkeit nachzugehen. Flexibilisierung der Öffnungszeiten heißt es jetzt in vielen Bundesländern, was nett umschreibt, daß aus Halbtagskindergärten ganztägige Angebote gemacht werden müssen. Der geplante Umfang ist bescheiden. In Baden-Württemberg und im Saarland z.B. strebt man an, Mitte des Jahrzehnts für knapp 20 Prozent aller Drei- bis Sechsjährigen Ganztagsplätze zur Verfügung zu stellen. Der Anteil von Kindern mit berufstätigen Müttern liegt allerdings bundesweit doppelt so hoch.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
Der Kindergartennotstand ist keine neue Erscheinung. Neu ist, daß er immer weniger klaglos von Eltern hingenommen wird. Daß Mütter vernehmlicher fordern, die Jugendämter mögen etwas unternehmen, damit Kindererziehung und Berufstätigkeit vereinbar werden.
Die Behebung des Notstands scheitert zum einen sicher an den begrenzten Finanzmitteln der Gemeinden (die die Kosten für Tagesbetreuung tragen müssen). Dort hatte man sich bequem damit eingerichtet, Betreuungsangebote nur für „soziale Notfälle“ bereitzuhalten, während ansonsten Eltern mit allerhand Notlösungen sicherstellten, daß irgend jemand auf den Nachwuchs aufpaßt. Darauf, daß damit „Daseinsvorsorge“ an der gesellschaftlichen Entwicklung vorbei betrieben wird, hätten Jugendämter schon länger kommen (und entsprechen rechtzeitig handeln) können. Aber Weit- und Voraussicht war noch nie die Stärke westdeutscher Sozialplanung.
Finanzierungsprobleme sind aber nicht das einzige Hindernis. Bayerns Kultusminister hat es — wie immer erfrischend deutlich — zum Ausdruck gebracht. Es kommt gar nicht in Frage, daß der Kindergarten zu einer Einrichtung ausgebaut wird, die familienersetzend die Kinder „rund um die Uhr“ betreut. Nun wären Bayerns Mütter — und nicht nur die — schon zufrieden, wenn statt „rund um die Uhr“ ein paar Stunden eine Bleibe für die Kleinen zu finden wäre. Kindergartennotstand ist auch Familienpolitik. Solange Mutter, Vater und Kinder sich abmühen müssen, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen, ist morgens um sieben die Welt im Reihenhaus noch in Ordnung. Daß Mütter und Kinder dabei die Benachteiligten sind, war ja schon immer so.
Beide AutorInnen haben unlängst eine ausführliche Darstellung der Problematik vorgelegt: Heidi Kaiser/Jürgen Moysich: Der Kindergartennotstand, Streitschrift für Erzieher und Eltern , Piper, München 1991, 208 S., 14,80 DM.
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