: Verlierer des Weltmarkts
■ Die vielgepriesene globale „freie Marktwirtschaft“ gibt es nicht — zum Nachteil der Entwicklungsländer. Eine Dokumentation aus dem UNO-„Bericht über menschliche Entwicklung“ für das Jahr 1992
Die Welt hat in diesem Jahrzehnt die einzigartige Gelegenheit, globale Märkte zum Vorteil aller Nationen und Völker zu nutzen.
Der Bericht über menschliche Entwicklung 1992 betrachtet das Funktionieren dieser globalen Märkte: Wie entsprechen sie — oder entsprechen sie nicht — den Bedürfnissen der ärmsten Menschen auf dieser Welt?
Der Bericht versucht, die Rolle globaler Märkte unter ihnen angemessenen Perspektiven zu bestimmen. Auf Wettbewerb eingestellte Märkte sind die besten Garanten für effiziente Produktion, doch müssen diese Märkte für alle offen sein. Sie bedürfen eines sorgfältig gestalteten Regulierungsrahmens, und sie müssen durch vernünftige sozialpolitische Maßnahmen ergänzt werden. In ihrem Weltentwicklungsbericht 1991 resümierte die Weltbank zutreffend: „Es geht nicht um die Frage: Staat oder Markt? Beiden kommt eine große und unersetzliche Bedeutung zu!“
Wären die globalen Märkte wirklich offen, so würden sie dem Kapital, der Arbeit und den Waren freie Zirkulation rund um die Welt gestatten und dazu beitragen, einander angeglichene wirtschaftliche Möglichkeiten für alle zu schaffen. Aber die globalen Märkte sind weder frei noch effizient. Während sich nationale Märkte derzeit öffnen, bleiben die globalen Märkte überaus beschränkt. Von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, bereitet es den Entwicklungsländern große Mühe, das Potential dieser Märkte voll auszuschöpfen. Darin reflektieren sich die Schwäche ihrer Politik und die Beschränkungen der globalen Märkte.
Ungleiche Partner
Die Entwicklungsländer haben auf den internationalen Märkten eine nur sehr schwache Handelskraft. Die meisten von ihnen verfügen nur über beschränkte einheimische Märkte, haben nur wenige Waren oder Dienstleistungen anzubieten und sind abhängig vom Export von Rohstoffen, die nicht selten einen Exportanteil von 90 Prozent in afrikanischen Ländern und von 65 Prozent in lateinamerikanischen Ländern haben. Die Preise dieser Rohstoffe sind in den 80er Jahren dramatisch gefallen, was den langfristigen Trend verfallender Rohstoffpreise massiv verstärkte. Teilweise lag dies an der abnehmenden Weltnachfrage, teilweise jedoch auch daran, daß viele Länder plötzlich aufgefordert wurden, ihre Schulden zurückzuzahlen. Sie mußten die Produktion und die Exporte erhöhen, um genügend Devisen zu erhalten, und sahen sich plötzlich auf einem schrumpfenden Markt heftig miteinander konkurrieren.
Für die Entwicklungsländer errechnet sich der relevante Realzinssatz ihrer Auslandsschulden aus dem Nennzinssatz, berichtigt um den Umrechnungskurs ihrer Dollar-Exportpreise. Hauptsächlich wegen des Niedergangs ihrer Exportpreise zahlten die Entwicklungsländer in den 80er Jahre effektiv einen durchschnittlichen Realzinssatz von 17 Prozent. Im Vergleich dazu betrug dieser Satz für die Industriestaaten nur 4 Prozent.
Die Bemühungen, die Schulden abzutragen, konnten den Verfall der Exportpreise, den eben diese Bemühungen auslösten, nicht auffangen. Dieses Phänomen, das erstmals während der wirtschaftlichen Depression in den 30er Jahren auftrat, hat eine paradoxe und verwirrende Folge: Je mehr die Schuldner zahlen, desto mehr schulden sie.
Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds wollten derartige Pendelbewegungen ausgleichen und den Entwicklungsländern den Zugang zu den Weltfinanzmärkten erleichtern. In den frühen 80er Jahren erhöhten sie deshalb ihre Nettokredite an die Entwicklungsländer. Weil sie aber weder die notwendigen Ressourcen noch das offizielle Mandat besaßen, um auf den Weltmärkten in nachhaltiger Weise zu intervenieren, konnten sie eine derartige Politik nicht aufrechterhalten. Deshalb vergrößerten sie die Pendelbewegungen, anstatt sie zu dämpfen. Zwischen 1983 und 1987, als sich die Entwicklungsländer mit einem plötzlichen Exodus der kommerziellen Bankdarlehen konfrontiert sahen, fielen die IWF-Nettotransfers von plus 7,6 Milliarden US-Dollar auf minus 7,9 Milliarden US-Dollar. Auch die Nettotransfers der Weltbank schlugen ins Negative und sanken auf minus 1,7 Milliarden US- Dollar im Jahre 1991 (siehe Grafik).
Die Marktschwäche von Entwicklungsländern wird auch an ihrem Unvermögen deutlich, ausreichende Mengen direkter Auslandsinvestitionen anzuziehen. Investoren suchen nach dem höchsten Ertrag ihres Kapitaleinsatzes, und den fanden sie in den vergangenen Jahren regelmäßig in Industriestaaten. Und die Entwicklungsländer, die Auslandsinvestitionen erhielten, gehören in der Regel zum Kreis der schon etwas wohlhabenderen Länder. 68 Prozent der jährlichen Auslandsinvestitionen für Entwicklungsländer flossen in gerade einmal neun Länder in Lateinamerika sowie Ost- und Südostasien.
Dies mag merkwürdig erscheinen, da Kapital doch einen höheren Ertrag in kapitalarmen Ländern mit reichlich vorhandener Arbeitskraft abwerfen sollte. Anscheinend jedoch wird der Qualität und den technologischen Fähigkeiten der Arbeiter eine größere Bedeutung beigemessen. Länder, in denen die Arbeitskräfte eine bessere Allgemein- und Fachausbildung erhalten — und die ein politisch und wirtschaftlich stabiles Investitionsklima aufweisen—, können tendenziell bessere Erträge anbieten. Auch Staatsangehörige von Entwicklungsländern investieren ihre Gelder in Industriestaaten und tragen damit zu dem doch wohl abartigen Fluß von Geldmitteln aus armen in reiche Länder bei.
Die Priorität solch grundlegender menschlicher Bedürfnisse wie Grundbildung und elementare Gesundheitsvorsorge darf nicht in Zweifel gezogen werden. Aber die Entwicklungsländer müssen über die Basisbelange menschlichen Überlebens hinausgehen und nach Kräften in sämtliche Ebenen der Bildung von Humankapital investieren, und zwar besonders in den Erwerb von Fachkenntnissen in den Bereichen Technik und Management. Wenn die Entwicklungsländer keine größere Kontrolle über die expandierende „Industrie des Wissens“ erlangen, werden sie auf ewig im stehenden Gewässer der Produktion mit geringem Mehrwert dahinvegetieren.
Unfreier Warenhandel
Globale Märkte funktionieren nicht frei. Beschränkungen sind besonders deutlich bei den Waren und bei der Arbeitskraft zu erkennen. Zoll- und andere Schranken halten viele Hersteller aus Entwicklungsländern außen vor, und Einwanderungsbeschränkungen verhindern, daß Arbeiter auf der Suche nach einem höheren Entgelt für ihre Arbeitskraft migrieren können.
Handelsschranken schützen die nationalen Märkte der Industriestaaten vor Importen aus einer ganzen Reihe von Ländern — reichen wie armen. Anderen Einschränkungen unterliegen zum Beispiel hauptsächlich solche Produkte, bei denen die Entwicklungsländer wettbewerbsfähiger sind — bei arbeitsintensiven Exportartikeln wie Textilien, Stoffen oder Schuhen. Das Zollniveau hingegen erhöht sich bei einer beträchtlichen Anzahl von Waren mit ihrem Verarbeitungsgrad. Dies gilt für Gewürze, Jute und Pflanzenöle ebenso wie für tropische Früchte, Gemüsesorten und Getränke. Solche Zollerhöhungen aber halten die Entwicklungsländer davon ab, ihre Rohwaren zu verarbeiten — also Schokolade aus Kakao herzustellen oder Teppichunterseiten aus Jute.
Einer Weltbankstudie zufolge vermindern Handelsbeschränkungen das Bruttosozialprodukt der Entwicklungsländer um 3 Prozent — das bedeutet einen jährlichen Verlust von 75 Milliarden US-Dollar. Eine andere Schätzung besagt, daß durch eine allmähliche Abschaffung des Multifaserabkommens die Exporte der Entwicklungsländer alleine bei Textilien und Stoffen um rund 24 Milliarden US-Dollar jährlich steigen könnten.
In Wirklichkeit jedoch werden die Barrieren verstärkt. 20 von 24 Industrieländern sind heute protektionistischer als vor zehn Jahren. Ungefähr 28 Prozent aller OECD-Importe aus Entwicklungsländern unterliegen anderen als Zollbarrieren. Es ist wahr, daß Entwicklungsländer eine protektionistische Politik betreiben, um junge und andere Industrien zu schützen. Aber die wahre Ironie liegt anderswo: Während das durchschnittliche Protektionsniveau in den Entwicklungsländern langsam zu sinken beginnt, teilweise als Resultat struktureller Anpassungsprogramme, beginnt der Trend zum Protektionismus in den Industrienationen an Boden zu gewinnen.
Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) wurde geschlossen, um derartige Schranken allmählich abzubauen — zum Wohle des Welthandels insgesamt. Sein Einfluß jedoch ist sehr begrenzt geblieben. Viele Bereiche — unter anderem die Landwirtschaft, Tropenprodukte, Textilien, Dienstleistungen, geistige Eigentumsrechte oder Investitionsfluß — entsprechen nicht seinen Prinzipien. Tatsächlich stehen lediglich 7 Prozent des Welthandels in vollständiger Übereinstimmung mit den Gatt-Prinzipien.
Unfreie Arbeitssuche
Noch straffer sind die Beschränkungen in bezug auf die Migration von Arbeitskraft. Jedes Jahr drängen in den Entwicklungsländern 38 Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt— zusätzlich zu den mehr als 700 Millionen unbeschäftigen oder unterbeschäftigten Menschen. Wenn man für sie keine Arbeitsmöglichkeiten schafft, werden immer mehr der Versuchung erliegen, sich dem wachsenden Strom der internationalen Migranten anzuschließen, legal oder illegal. Rund 75 Millionen Menschen aus Entwicklungsländern sind jedes Jahr unterwegs — als Wirtschaftsmigranten, Hilfsarbeiter, Flüchtlinge oder Heimatlose.
Im Gegenzug werden die Industriestaaten zunehmend wählerischer, welche Immigranten sie akzeptieren. Sie haben in der Vergangenheit das Niveau der Qualifikation höher und höher gesetzt, und sie geben neben politisch Verfolgten in erster Linie ausgebildeten Facharbeitern oder denen, die Kapital mitbringen, den Vorzug.
Diese Politik aber ist kostspielig für die Entwicklungsländer. Sie verlieren hochausgebildetes Fachpersonal, Wissenschaftler und Fachleute, in deren Ausbildung sie viele Milliarden US-Dollar investiert haben. Außerdem verlieren sie auch Geldüberweisungen, die ungelernte Wanderarbeiter heimgeschickt hätten. Derartige Überweisungen stellen für viele Entwicklungsländer eine wichtige Einkommensquelle dar. Sie kommen nicht nur aus Industriestaaten, sondern auch von Migranten, die ihren Weg in andere, oft rascher wachsende oder ölproduzierende Entwicklungsländer gefunden haben. Alleine 1989 erreichten derartige Überweisungen aus den Industriestaaten und der Golfregion eine Höhe von 25 Milliarden US-Dollar.
Es ist natürlich vollkommen unrealistisch zu erwarten, daß die Industriestaaten ihre Einwanderungsbeschränkungen spürbar lockern werden. Statt dessen müssen in der sich entwickelnden Welt genügend wirtschaftliche Möglichkeiten geschaffen werden, um so den Druck zur Migration zu vermindern.
Milliardenverluste
Globale Marktbeschränkungen und ungleiche Partnerschaft kosten die Entwicklungsländer etwa 500 Milliarden US-Dollar (siehe Grafik) — das sind ungefähr 20 Prozent ihres Bruttosozialproduktes und sechsmal soviel wie ihre Ausgaben für die Prioritätsbereiche der menschlichen Entwicklung, zu denen zuvorderst Grundbildung, elementare Gesundheitsvorsorge, sauberes Wasser und die Ausmerzung von Unterernährung gehören. Stünden diese 500 Milliarden US-Dollar den Entwicklungsländern zur Verfügung und würden sie vernünftig verwendet, so könnte dies enorme Auswirkungen bei den Bemühungen zur Verminderung der Armut haben. Man sollte niemals vergessen, daß Armut keinen Paß benötigt, um internationale Grenzen zu überschreiten — in der Form von Migration, Umweltzerstörung, Drogen, Krankheit oder politischer Instabilität.
Radikale Reformmaßnahmen sind notwendig, damit die Märkte auch im Interesse der armen Länder und armen Menschen funktionieren. Aber Märkte allein können die Menschen nicht vor absoluter Armut schützen. Auch starke und effiziente Netze der sozialen Sicherung sind nötig, sowohl global als auch national.
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