piwik no script img

KOMMENTARERenaissance des Wilhelminismus?

■ Genschers Abgang und die schwankenden Grundlagen der deutschen Außenpolitik

Die vielen wohlgesetzten Worte, mit denen Genscher sich von seinem Amt verabschiedete, dienten nur einem Zweck: uns zu suggerieren, das Haus sei wohl bestellt. Eherne Prinzipien regieren dem scheidenden Minister zufolge die deutsche Außenpolitik. Europäische Gesinnung gegen Nationalismus, Wertorientierung gegen Machtversessenheit. Sich-den-globalen- Herausforderungen-Stellen. „Die Grundlinien der Außenpolitik sind eindeutig vorgegeben.“

Nichts wäre notwendiger, aber nichts ist auch weniger zutreffend. Genschers Außenpolitik lebte von den Prämissen des Kalten Krieges: Westorientierung plus Entspannungspolitik. Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Hegemonialsystems und der deutschen Vereinigung, die er mit nie geahnter Entschlossenheit betrieb, kam die Zäsur. Wohin weiter? In der kurzen Spanne vom Völkerfrühling des Jahres 1989 bis zum Abschluß des Zwei-plus-vier-Vertrages schien es einen Moment lang so, als würde mit der Idee des vereinten Europa ein weitgespanntes Projekt die deutsche Politik bestimmen. Die hochgestimmte Rhetorik dieser Tage lediglich als Schalmei zu qualifizieren, mit der die internationale Zustimmung zur deutschen Einheit erleichtert werden sollte, wäre ungerecht. Genscher erkannte die Chance, die sich für eine Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen, mehr noch: für ein dauerhaftes System friedenssichernder Institutionen in Europa öffnete. Aber er wagte es nicht, in der Auseinandersetzung um effektive Formen europäischer Streitschlichtung und Kriegsverhinderung einen mehr als begrenzten Konflikt mit den USA einzugehen. Noch weniger stand er dafür ein, die deutsche Öffentlichkeit auf die tiefgreifenden Veränderungen vorzubereiten, die die Einbeziehung Ost- und Südosteuropas in den europäischen Integrationsprozeß mit sich bringen würde.

Wie der Bundeskanzler blieb auch er der Mentalität des Juste-milieu verhaftet, dem fatalen Sowohl-Als-auch, der Unentschiedenheit. Im Falle Jugoslawiens hat dieses Hantieren mit sich ausschließenden Formeln, hat die Verteidigung der jugoslawischen Föderation bei gleichzeitiger Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der sie konstituierenden Nationen direkt zur Katastrophe beigetragen. Vom utopischen Horizont der Jahre 1989 und 90 hier in Europa aber ist nur ein Konglomerat sich widerstreitender Institutionen übriggebieben, die der scheidende Außenminister vergeblich als wohlgeordnet und harmonisch zu preisen versucht.

Der Habitus Genschers und sein Talent zu Formelkompromissen hat der deutschen Außenpolitik stets den Anstrich der Verläßlichkeit, Berechenbarkeit, Kontinuität gegeben. Jetzt mehren sich die Anzeichen, daß der außenpolitische Regierungsstil des Kanzlers sich als prägend erweisen wird. Schon die Verhandlungen um die Verträge mit Polen und der CSFR zeigten bei Kohl die Abhängigkeit vom „Primat der Innenpolitik“. Dieser mangelnden Festigkeit entsprach ein politisches Großmannstum, dessen wilhelminische Züge zunehmend das Bild der deutschen Politik im Ausland bestimmen. Stilfragen gewinnen in einer Situation, wo die Koordinaten der künftigen deutschen Politik keineswegs festliegen, oft eine überdimensionierte Bedeutung — und es steht zu befürchten, daß der von Kohl erwählte Nachfolger Genschers weder Mann noch Frau sein wird, die selbstherrlichen Auftritte des Chefs einzudämmen.

Allerdings wäre es etwas billig, sich mit der Kritik des Panoptikums der Peinlichkeiten zu bescheiden, zu der die deutsche Außenpolitik zunehmend verkommt. Nach wie vor geht es um die großen, 1989 thematisierten Fragen: Welches Europa wollen wir, welchen Platz soll Deutschland in ihm einnehmen? Diese Fragen sind noch nicht endgültig entschieden. Bei ihrer Beantwortung wäre auf die normativen, scheinbar utopischen Grundlagen der Außenpolitik zurückzugehen, die im Jahr der Revolutionen 1989 einen glücklichen Augenblick lang aufschienen.

Christian Semler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen