: Kaffee gegen Kondome?
Ungereimtheiten der aktuellen Hunger- und Bevölkerungsdiskussion am Beispiel des von Bürgerkrieg und Flucht schwer belasteten Äthiopien ■ Von Alemu Fekadu
Äthiopien, das sich trotz eines überwiegend moderaten Klimas und ergiebigen Bodens in einem unglaublichen Elendszustand befindet, ist ein Musterbeispiel der Welthungerproblematik. Das Land ist mit einer Fläche von 1.221.900 Quadratkilometern in etwa so groß wie Deutschland, Dänemark, Großbritannien, Irland, die Benelux-Staaten, Italien, Portugal und Griechenland zusammen. Während sich in diesen Ländern etwa 246 Millionen Menschen bei einer Bevölkerungsdichte von etwa 190 Personen pro Quadratkilometer zusammendrängen, verlieren sich 46 Millionen Äthiopier (38 Menschen pro Quadratkilometer) in der Weitläufigkeit ihres Landes.
Dieser Vergleich gibt keine Anhaltspunkte zur Begründung der These einer Überbevölkerung Äthiopiens, welche ihrerseits am Hunger schuld sein soll. Im Gegenteil: es sind meist die vom Hunger bedrohten Länder, die unter chronischem Bevölkerungsmangel leiden. Afrika südlich der Sahara hat nur 16 Einwohner pro Quadratkilometer. Selbst im Vergleich mit dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, China (135 Menschen pro Quadratkilometer) weisen die angeführten EG-Länder eine um 40Prozent höhere Bevölkerungsdichte auf. Europa ist der einzige Kontinent, der schon seit Jahrhunderten restlos überbevölkert ist.
Dem wird oft das Argument entgegengehalten, daß das ausschlaggebende Moment nicht die absolute Größe, sondern lediglich die Geburtenrate sei. Auf der anderen Seite aber — wie der britische Wissenschaftler Lloyd Timberlake betont — wird behauptet, daß die meisten Männer und Frauen in Afrika von unzähligen Geschlechtskrankheiten befallen und unfruchtbar seien; daß deshalb auf 100 Schwangerschaften bis zu 50 Fehlgeburten kommen; daß auch von den dennoch Geborenen aufgrund der Krankheiten und des Hungers viele nicht einmal das fünfte Lebensjahr erreichen; und daß die Lebenserwartung in Afrika zwischen 30 und 40 Jahren liege. Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche Aussagekraft die Geburtenrate haben kann, wenn die meisten dieser Menschen ohnehin entweder während oder gleich nach der Geburt sterben und infolgedessen keine Überbevölkerungslawine auslösen können, wie ihnen oft vorgeworfen wird.
Zeugungsorgane und Klima als Sündenböcke
Timberlake fragt außerdem, worauf in Afrika überhaupt die großartigen Zahlenwerke basieren. Beispielsweise fehlt in Äthiopien die Infrastruktur, um eine zuverlässige Statistik über die Bevölkerungsentwicklung zu erstellen. In der äthiopischen Geschichte sind Geburts-, Todes-, Heirats- oder Eigentumsregister weitgehend unbekannt und höchstens mündlich überliefert. Entweder basieren die erhobenen Zahlen auf wenigen Stichproben oder sind von unzureichend ausgebildeten Beamten am Schreibtisch fabriziert, wie ich selbst im äthiopischen Erziehungsministerium feststellen konnte.
Ein weiteres Problem liegt darin, daß Empfängnisverhütung, einschließlich Abtreibung, umfassende klinisch-medizinische Geräte, entsprechende Medikamente und hochqualifiziertes Personal voraussetzt. Andernfalls wären solche Eingriffe nur auf Kosten der Gesundheit der Mütter durchzuführen. Somit stellen moderne Bevölkerungskontrollmethoden die Länder der Dritten Welt vor zwei gleichermaßen falsche Alternativen: Industrialisierung um jeden Preis oder totale Abhängigkeit vom Know-how der Industrienationen. Um die erforderlichen Geräte, Pillen, Kondome, Experten und Dienstleistungen bezahlen zu können, müßten diese Länder immer mehr Kaffee und Baumwolle anbauen und als dessen Folge selbst hungern. Die Lieferung einer einzigen Packung Verhütungsmittel müßte womöglich mit einer Tonne Kaffee oder Kakao bezahlt werden.
Nicht nur die Zeugungsorgane der Menschen fungieren als Sündenböcke bei den Versuchen, Hunger zu erklären — auch das „Klima“ oder „Wetter“. Die Theorie der sich unaufhaltsam ausbreitenden Wüsten sollte das Elend in der Sahelzone erklären. Mittlerweile ist das ganze pseudowissenschaftliche Lügenmärchen aus der Welt: Eine seit 1984 gesammelte US-Studie wies 1991 mit Hilfe von 4,5 Millionen Satellitenfotos nach, daß die Sahara-Wüste in der Untersuchungszeit um neun Prozent geschrumpft ist, statt sich auszudehnen. Auch Timberlake verweist auf einen Bericht der World Metereological Organisation aus dem Jahre 1980, in dem es heißt: „Die meisten Analysen gehen davon aus, daß die Dürren der 70er Jahre, wenn auch besonders ernst, normaler Bestandteil des Sahel-Klimas sind, und zwar in dem Sinn, daß sie bereits früher immer wieder vorkamen und höchstwahrscheinlich auch in Zukunft weiter auftreten werden.“
Im besonderen Fall Äthiopien sind Naturkatastrophen — zu wenig oder zu viel Regen, Hagelstürme, Pflanzenschädlinge — keine Neuheit. G. Hancock verweist auf die Landeschronik des Hungers, worin zwischen dem 16. und 18.Jahrhundert insgesamt 23 „Katastrophenfälle“ registriert werden. Es sind Naturunglücke, vergleichbar mit denen Europas im 17.Jahrundert, als alle drei Jahre Mißernten und Teuerung, alle zehn Jahre Hungersnöte wiederkehrten.
Äthiopien wurde zu dem gemacht, was es ist
Sicherlich führen Naturerscheinungen wie Trockenheit zu Hunger — allerdings nur, wenn sich das Volk auch sonst unter ungünstigen Bedingungen befindet, die den Menschen ausreichende Vorratshaltung oder die Möglichkeit des Ortswechsels verwehren und ihnen keinen anderen Spielraum lassen als den Hungertod.
In Äthiopien waren weder Dürre noch die zunehmende Verödung des Landes die Hauptursachen für den Hunger. Sie sind lediglich als Auslöser beziehungsweise als an dritter Stelle einzustufendes Übel im gesamten Ursachenkomplex zu betrachten. Auch der „Dreißigjährige Krieg“ Äthiopiens bis 1991 nimmt nur die zweitwichtigste Stelle als Verursacher des Hungers ein.
Zwar fraß der Krieg alle materiellen und menschlichen Ressourcen des Landes und produzierte Kriegs- und Hungerleichen. Dennoch muß betont werden, daß nicht Dürre, Krieg oder Überbevölkerung die Hauptursachen für das Elend in Äthiopien sind. Das Land wäre aufgrund seiner Größe und Fruchtbarkeit im südlichen Teil auch unter diesen ungünstigen Bedingungen in der Lage gewesen, seine Bevölkerung zu ernähren, wenn nicht die monokulturelle Ausrichtung der Landwirtschaft — insbesondere die Abhängigkeit von der Kaffeeproduktion — dem entgegengestanden hätte.
„Die Verteidigungsausgaben betragen mindestens 45Prozent des Jahresbudgets, und die Verschuldung gegenüber der UdSSR, der größten Waffenlieferantin, hat sich erhöht“, schreibt Andre Glucksmann über das Äthiopien des 1991 gestürzten Mengistu. „Man bezahlte mit Kaffee (70Prozent der Ausfuhren). Die großen Kaffeekulturen — Kaffa, Sidamo, Wollega, Harar und Illubabor — dienten also dazu, den Krieg und die Aufrechterhaltung der territorialen Integrität zu finanzieren. Daher ist vorgesehen, die Anbauflächen alle fünf Jahre zu erweitern. Die hochgelegenen Gebiete im Zentrum und im Norden sind daher für die politische Ökonomie kaum von Bedeutung.“
Fast alle südlichen Provinzen des Landes — etwa in der Größe Deutschlands — werden der Kaffeeproduktion geopfert. In diesem Gebiet lebt und arbeitet etwa die Hälfte der Bevölkerung des Landes — etwa 20 Millionen Menschen, vier Millionen Familien. Jährlich erzielt Äthiopien Ausfuhrerlöse von insgesamt 400 Millionen Dollar, wobei der Kaffee zwei Drittel dieser Summe ausmacht — der Rest verteile sich auf Häute und Felle sowie Ölsaate, Ölkeime, Baumwolle, Früchte und Gemüse. Das ergibt ein Prokopfeinkommen aus der Kaffeeproduktion von 6,50 Dollar pro Jahr — nicht einmal der Preis von einem Kilo gerösteten Kaffees, wie er in Europa verkauft wird. Und über drei Viertel davon bleibt auf Regierungsebene für Waffenkäufe oder Luxusartikel der Elite hängen (darunter auch die großen Kaffee-Zwischenhändler).
Schon am Ausmaß des Kaffeeanbaus in Äthiopien kann man sehen, daß das Land nicht nur aus Wüste, Dürre- oder Kriegsgebieten besteht. Der Kaffeebaum ist eine anspruchsvolle Pflanze, die viel Feuchtigkeit, fruchtbaren Boden sowie fünf bis sieben Jahre intensiver Pflege bis zur ersten Ernte bedarf. Trotzdem ist Kaffee das billigste Getränk der Welt — billiger noch als Mineralwasser. Sogenannter Rohkaffee kostete auf dem Weltmarkt im Jahre 1987 0,90 Dollar pro Kilo — und die Preise sinken weiter. Als einer der größten Kaffeeproduzenten der Erde versorgt Äthiopien Millionen von Menschen in allen Teilen der Erde mit Billig- Kaffee, während es selbst hungert.
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