: Einschüsse
■ Eine Matrialsammlung von Piotr Nathan in der Auguststraße
Berlin ist nicht nur Ost und West wie jede Stadt, jeder Weg durchquert hier Orte verschiedenster Charaktere. Oft ist die Atmosphäre eines Straßenzuges von solcher Intensität, daß das, was sich zwei Straßenecken früher bot, jede Realität verliert. Wer vom Alex kommend ins Scheunenviertel und die dahinter liegende Spandauer Vorstadt gelangt, erfährt Distanzen, die sich selbst durch eifrigsten Gebrauch der TV-Fernbedienung nicht simulieren lassen.
Hinter der neu erstandenen goldglänzend maurischen Pracht der Synagoge biegt man von der Auguststraße in den Hof jener ehemaligen Margarinefabrik ein, wo der Verein »Kunst-Werke e.V.« Ausstellungsräume eingerichtet hat. Dort ist im Keller für nur sechs Tage eine Installation von Piotr Nathan zu sehen — ein weiterer Ort.
Neben Abfalleimern, Beleuchtungskörpern und anderen architektonischen Eigenheiten kennzeichnet der Erhaltungszustand allgemein die wirklich-unwirklich gewordene Grenze zwischen Ost und West. Ein weiteres, auf die gemeinsame und geteilte Vergangenheit zurückverweisendes Detail sind die Kratzer, Krater und Einschußlöcher an Hausfassaden und an Denkmälern, die den letzten Weltkrieg überstanden. Im Osten sind diese paradoxen Phänomene unversehrter Verletzungen zahlreich, im Westen wurden diese Narben häufiger geglättet.
Der Ort, den Piotr Nathan zeigt, ist noch Fragment — ein Werkstattbericht gewissermaßen. Wenn dieser Ort einmal fertig ist, wird er aus über zweitausend Abdrucken von solchen überwiegend im Osten Berlins gesammelten Einschußlöchern bestehen. »Spurensicherung« wurden solche künstlerischen Unternehmungen benannt, die in verschiedensten Medien die sogenannte objektive Geschichte als reine Fiktion entlarven. In der Installation Piotr Nathans läßt der unlösbare Widerspruch von Geschichte und Geschichten den Entwurf individueller Mythologie in diesem Ort selbst zerfallen.
Da sind Skulpturen oder Reliefs: untertassen- bis tellergroße Platten mit kleinen und größeren Erhebungen. Sie erinnern manchmal an Felsformationen, häufiger an Brustwarzen, oder es sind einfach nur unförmige Haufen. Als Abdrucke der Einschläge von Bombensplittern und Einschußlöchern sind es Negativformen von Vertiefungen, die selbst schon Negativformen waren: Spuren des Krieges vor der geteilten Geschichte, die jene Spuren jeweils tilgte oder konservierte.
Diese Einzelformen füllen einen Grundriß, der in Vergrößerung den Umriß eines Urinflecks nachzeichnet, der auf der Matratze des Sterbebetts eines Aids-Kranken entstand. Die Beliebigkeit des Zusammentreffens dieser Zeugnisse von Geschichten erinnerte an surrealistische Prinzipien, wenn sich hier nicht statt der stummen Realität von Dingen die Spuren von Erfahrung überlagerten. Der Schönheit der Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch, die die Surrealisten begeisterte, steht die Aufladung von Urinfleck und Einschußlöchern als Spuren leidhafter Erfahrung entgegen. Nicht die Kollisionen der Objektwelt werden hier vorgeführt, sondern die Absurdität der Ungleichzeitigkeit, in der jedes Individuum gegenüber der imaginierten Geschichte sich erfährt.
Oder es imaginiert sich ein Individuum gegenüber der Erfahrung von Geschichte. Die Abdrucke bilden in bräunlich-rosa Ton auch Verletzungen empfindlicher Haut von Hauswänden ab. Durch die Fragmente eines Tapetenmusters wird die Lage des Sterbenden angedeutet, der den Urinfleck hinterließ: einige der Formen sind auf dem glatten Rand um die Erhebung des Abdrucks mit dem rotgrundigen Tapetenmuster bemalt und so aneinander gelegt, daß sie als fragmentierte Rekonstruktion einer tapezierten Wand erscheinen. Im voraussichtlichen Endzustand wird diese Tapetenbahn eine Länge von sieben Metern haben.
Die Unvermittelbarkeit von Geschichte und individuellem Erleben wird monumentalisiert. Dem monumentalen Ergebnis sammeleifriger Kleinarbeit steht der ironische Kommentar eines Tapetenmusters — passend für ein Schlafzimmer — ebenso entgegen wie die bizarre Poesie der kleinen Häufchen und Wülste, die als Abdrucke von Einschüssen entstanden. Ulmann-M. Hakert
Höher mußt Du schießen, nicht auf die Beine — der Spaziergängerduft eines Insektenforschers von Piotr Nathan, bis 1. Mai, 14-19 Uhr, Kunst-Werke, Auguststraße 69, Mitte.
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