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Die beste aller Welten

„Tag und Nacht“ — ein Liebesfilm von Chantal Akerman  ■ Von Sabine Seifert

Sie kommen aus der Provinz, sind neu in Paris. Aber sie haben eine Wohnung, ohne Telefon und Möbel — abgesehen vom Bett, auf dem sie sich lieben. Junge Leute. Die Tapeten stammen noch vom Vormieter, häßlich bunte Muster. Die Wohnung ist groß und so geschnitten, daß Julie und Jack sich Fenster zu Fenster gegenüberstehend unterhalten können. Wie auf einer Bühne, die man benutzt, um etwas zu spielen. Eine Liebesgeschichte.

Ihre Liebesgeschichte spielt im Sommer, der besondere Regeln hat. Zum Beispiel benötigen die Liebenden keinen Schlaf. Jack fährt nachts Taxi, während Julie durch das schlafende Paris läuft; tagsüber lieben sie sich. Wenn Julie gegen Abend die Fensterläden aufstößt, wölbt sich der violette Abendhimmel über Paris. Essen, Telefon, Freunde, die Dinge eines normalen Alltags verschieben sie auf „nächstes Jahr“. Ein Kind? „Nächstes Jahr.“ Dann braucht man Telefon, Freunde und etwas zu Essen. Und man bekommt Angst. „Mir kann nichts passieren“, sagt Julie, bevor sie Jack verläßt, um auf ihren Streifzug zu gehen.

Aber ihr passiert doch etwas. Sie begegnet Joseph, der wie Jack zierlich und schwarzhaarig ist und große dunkle Augen hat. Joseph fährt das Taxi von Jack bei Tag. Und Julie und Joseph beginnen, gemeinsam durch das nächtliche Paris zu streifen. Anfangs siezen sie sich, sie umarmen sich, gehen in ein Hotel. Denn Joseph mag sein Zimmer nicht. „Warum bleibst du dann dort?“ fragt Julie. „Weil ich fast nie dran denke“, sagt Joseph. Von da ab gehen sie jede Nacht in ein Hotel, während Jack Taxi fährt. Außer sonntags, dann ist Julie nur bei Jack, in der großen Wohnung.

Julie glaubt, die Fäden der Geschichte in der Hand zu halten. Sie muß nur sauber trennen: Tag und Nacht unterscheiden, um rund um die Uhr zu lieben. Eine Liebesgeschichte — ohne Pause, mit wechselnder Besetzung. Jack weiß nichts von Joseph; Joseph weiß zwar von Jack, aber er leidet. Die Dialoge sind minimalistisch, fügen sich in die rhapsodische Struktur der Filmerzählung: „Du redest wie aus einem Buch“, meint Jack einmal zu Julie. Sie spielt keine fremde Geschichte, sondern ihre eigene. Es ist kein angelesenes Wissen, sondern Intuition. Dazu gehört, nicht einzuschlafen. Der Müdigkeit nie nachgeben, immer wachsam bleiben. Sie könnten etwas versäumen, es könnte etwas Unvorhergesehenes passieren. Der Traum gerät in die Nähe zum Alptraum, wird zwanghaft. Und damit beginnen die Dinge schiefzugehen.

Nicht Julie oder Jack erzählen ihre Geschichte, sondern eine weibliche Erzählerstimme schaltet sich von Anfang an ein — zärtlich, fast mütterlich. (Auch die Berühungen — der Kinder, ist man fast versucht zu sagen — sind sanft, nie harsch; Lust, Heftigkeit rückt nicht ins Bild.) Der Geschichte gilt ihre ganze Sympathie, und sie registriert die zunehmenden Störungen, die inneren wie äußeren, die das Liebesglück aus der Balance bringen. Einmal schläft Julie nachts im Hotelzimmer ein. Seitdem fühlt sie sich gehetzt, die Zeit zählt. Zunächst gelingt es ihr, die Ängste zurückzudrängen. Jack ist beunruhigt, fühlt, daß etwas nicht stimmt. Eine Nacht lang bleibt Julie von Joseph weg und begleitet Jack beim Taxifahren. Jack redet vom Kinderkriegen, Joseph macht Ferienpläne. Er leidet mehr und mehr. Jack will die Wohnung verändern. Sie reißen eine Mauer ein, die häßlichen Tapeten verschwinden. Damit dringt endlich die Außenwelt in die bis dahin hermetische Innenwelt des Liebespaares ein; die neugierigen Nachbarn, die unter Vorwand hin und wieder angeklopft hatten und abgewiesen worden waren, feiern die Einweihung mit Julie und Jack. Bei Morgengrauen erzählt Julie Jack die ganze Geschichte: Die Tage mit Jack und die Nächte mit Joseph sind zu Ende. Julie geht. Vorher schmeißt sie ihre Schuhe, mit denen sie Wohnung und Paris durchwandert hat, in den Müll. Wie sagte Jack? „Sonntags geht in Familien immer etwas schief.“ Das ist in den besten Familien so, in der besten aller Welten.

Chantal Akerman: Tag und Nacht. Mit Guilaine Londez, Thomas Langmann, Francois Negret. 35 mm, 90Minuten. Frankreich 1991.

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