: Das Ende der Kreuzberger Behaglichkeit
Die alten Strukturen in dem Berliner Viertel gehen verloren/ Statt alternativer und autonomer Bewegung dominieren immer mehr Alkohol und Heroin die Szene/ Die Geschichte einer Kreuzberger Theatergruppe ■ Aus Berlin CC Malzahn
Es gab Abende, an denen es Alfons und Nils langweilig wurde in ihrer 300 Quadratmeter großen Kreuzberger Fabriketagenwohnung. Die Schauspieler waren erschöpft vom stundenlangen Körper-und-Stimmen-Training im riesigen Proberaum ihrer Behausung, waren müde vom Auswendiglernen der Verse des französischen Dichters Francois Villon. Sie hatten nicht einmal mehr Lust, die über sie hereingebrochene Tristesse in ihrer Stammkneipe „Kuckucksei“ mit einem Bier wegzuspülen. Lief auch im Fernsehen nur Mist, schalteten die beiden auf ein ganz anderes Programm.
Wenn man den Kopf aus dem Fenster im Hinterzimmer steckte, hatte man die Grenze von West nach Ost überquert. Das Haus Pfuelstraße 5 in Kreuzberg liegt direkt an der Spree— und die gehörte früher zum Territorium der DDR. Die besondere geographische Lage des Quartiers, das die beiden mit zwei weiteren Ensemble-Mitgliedern der Theatergruppe Vanilla Gorgon bewohnten, bot hervorragende Möglichkeiten, nach einem anstrengenden Tag noch Abenteuer erleben zu können, ohne die Wohnstätte verlassen zu müssen. Ein im Westen befestigtes und im östlichen Nachtwind flatterndes Transparent erregte todsicher das Aufsehen der DDR- Grenzsoldaten, die auf der Spree in ihren Schnellbooten entlangschipperten. Der Spruch „Freiheit für alle!“ reichte völlig aus, um einen unterhaltsamen Zwischenfall zu inszenieren. „Underlassnse soford diese Brovokation!“ hallte dann eine megaphonverstärkte Stimme über das Wasser. Scheinwerfer wurden auf die Wohnung im vierten Stock gerichtet — und wenn Alfons und Nils auch noch ihre blanken Hintern in den Osten hingen, drohten die Grenzer: „Ihr Verhalden is nich dazu angedan, dän Reisevargär zu erleichdern!“
Wer heute in Kreuzberg Abenteuer erleben möchte, muß sich etwas Neues einfallen lassen. Die Motorboote der Grepos sind schon längst im Besitz der Treuhand, die Spree fahren nun Passagierschiffe nach Berlin Mitte hinauf. Alfons (38) und Nils (31) wohnen nicht mehr in der Pfuelstraße 5, weil sie schon vor dem Mauerfall die Staffelmiete nicht mehr bezahlen konnten. Kreuzberg wurde vom Rand- zum Innenstadtbezirk: In die Fabriketagen, die früher von Theatergruppen, Kollektivbetrieben, Künstlern und Lebenskünstlern bewohnt wurden, ziehen wegen der steigenden Quadratmeterpreise immer häufiger Dienstleistungsunternehmen ein.
Viele von denen, die Anfang der achtziger Jahre nach Kreuzberg kamen, wähnten sich damals am Ziel ihrer Träume. Die Mauer war eine riesige Projektionsfläche ihrer Wünsche: Die KünstlerInnen glaubten, in Kreuzberg endlich einen Ort gefunden zu haben, der gleichzeitig Spannung und Abgeschiedenheit symbolisierte und dadurch kreatives Arbeiten ermöglichte. Die Autonomen hofften, Kreuzberg in einen herrschaftsfreien Bezirk verwandeln zu können. HandwerkerInnen, die die Nase vom Chefprinzip voll hatten, mieteten sich Fabrikräume und gründeten selbstverwaltete Betriebe. Junge Leute besorgten sich eine billige Bude, arbeiteten, wenn sie Geld brauchten und legten die Füße hoch, wenn sie genug hatten — sie begründeten die Jobber-Kultur.
Die Galerien, Betriebe, Restaurants, die Projektwerkstätten, Buchläden und Ateliers, die türkischen Gemüsehändler und Cafés, die muffigen Altberliner Eckkneipen und bunten Szeneläden, die Mietshäuser mit den Betrieben im Hinterhof: das war die Kreuzberger Mischung, die zum Mythos wurde. Die Mischung wird seit dem Mauerfall aufgemischt— und der Mythos vom Paradies, der hat nie gestimmt.
Die Wiener Straße, eine U-Bahn- Station vom Schlesischen Tor entfernt, war einst eine der beliebtesten Amüsiermeilen im Kiez. In den vergangenen 12 Monaten mußten dort drei Kneipen schließen: zwei, weil sie die Mieterhöhungen nicht verkraften konnten und eine, weil die Polizei während einer Razzia Kokain entdeckt hatte.
Die Fixerszene in Kreuzberg traf sich früher am Südstern und am Kottbusser Tor. Mittlerweile wird fast überall gedealt. Vor ein paar Jahren noch riefen autonome Gruppen dazu auf, Heroin-Verkäufer aus dem Stadtteil zu vertreiben. Ein „Kiezpalaver“ wurde einberufen, um über das Problem zu diskutieren. Die Selbsthilfe hat nichts genützt. Der vor Jahren noch politisch aufgeladene Kampf gegen Drogen wird heute sehr pragmatisch geführt. Ein am Kottbusser Tor sitzender Verein fordert vom Bezirksamt mittlerweile eine Spritzstube, damit die Junkies wenigstens einen Ort haben, wo sie unbehelligt fixen können. Wer im „Café Jenseits“ am Heinrichplatz ei
n
en Kaffee bestellt, wird im Zuckerlöffel ein kleines Loch bemerken. Damit will der Besitzer verhindern, das die Fixer ihr weißes Pulver in seinem Laden erhitzen können, um sich einen Schuß zu setzen. Im „Kuckucksei“, der selbstverwalteten Kneipe in der Wrangelstraße, haben die MitarbeiterInnen dunkelblaue Glühbirnen in die Klolampen geschraubt — damit die Junkies ihre Venen nicht mehr erkennen können.
Vor ein paar Jahren hat auch Alfons im „Kuckucksei“ gejobbt. Bevor er nach Berlin kam, lebte er in Emden und arbeitete dort bei VW. Im Sommer 1984 kehrte der gelernte Koch von einem Berlin-Besuch nicht mehr zurück. Er hatte die Schnauze voll von der Kleinstadt an der Küste und wollte Schauspieler werden. Eines Tages trank er im „Kuckucksei“ Kaffee und fragte die Cantinistas, ob sie einen Koch brauchen könnten. Sie konnten einen brauchen. Irgendwann lernte er Kalle kennen. Der war Regisseur. Alfons fragte ihn, ob er nicht einen ungelernten Schauspieler brauchen könnte. Er konnte einen brauchen. So einfach war das damals.
Tagsüber stand Alfons in der Küche, abends büffelte er Texte in der Fabriketagenwohnung — dem Arbeitsdomizil von Vanilla Gorgon. Das erste Stück, das im Sommer 1987 aufgeführt wurde, war ein Riesenflop. Bis zu 30 Leuten standen auf der Bühne herum und leierten selbstgemachte kryptische Reime herunter. Musikalisch untermalt wurde das ganze von einer drittklassigen Rockgruppe. „Kieztheater“ sollte das sein. Die Kritiken waren vernichtend. Dann fand Alfons ein Buch mit Gedichten von Francois Villon. Alfons und Nils probten ein Jahr lang. Die Premiere im „Ei“ wurde ein Riesenerfolg. Die regionale Presse überschlug sich vor Begeisterung, Fernsehteams rückten an, selbst ausländische Zeitungen wurde auf die Inszenierung aufmerksam. Heute ist Vanilla Gorgon eine der erfolgreichsten Off-Theater-Gruppen Berlins. Eine Kreuzberger Gruppe sind sie nicht mehr: Von den acht Ensemblemitgliedern wohnt nur noch Nils in SO 36. Die Vanillas spielen nun oft im „Club Gerard Philippe“, einem ehemaligen
Jugendzentrum im östlichen Nachbarbezirk Treptow.
„Die Solidarität in Kreuzberg funktioniert nicht mehr!“ klagt Alfons. Früher hätte man sich gegenseitig geholfen, bei der Wohnungssuche, bei finanziellen Schwierigkeiten — „irgendwie ging das immer“. Inzwischen hätten die Leute für sowas keine Zeit mehr. „Viele Autonome die ich kenne, machen überhaupt keine Politik mehr. Die müssen arbeiten und zusehen, wo sie bleiben.“ Sie hätten einfach resigniert. „Früher haben die Leute an einem Bühnenbild mitgebaut, weil sie Spaß daran hatten. Heute läuft das nur noch mit Kohle“, weiß Alfons. Wegen der steigenden Mieten, der zunehmenden Gewalt auf den Straßen und des steigenden Verkehrs ziehen immer mehr Menschen weg aus Kreuzberg — in ein Häuschen mit Garten am Stadtrand, in den Prenzlauer Berg oder nach Berlin Mitte. Alfons lebt jetzt auch im Osten, in einem besetzten Haus in der Kreutziger Straße in Friedrichshain. Auch Irmtraut (38), die ebenfalls zur Theatergruppe gehört, ist von Kreuzberg in die Kreutziger übergesiedelt. „Ich fühle mich hier wie vor zehn Jahren“, erzählt sie. Damals lebte sie in der Cuvrystraße 25 — ein ehemals besetztes Haus in Kreuzberg. Die beiden haben Glück gehabt: Sie zahlen keine Miete, können sich ihren ungebundenen Lebensstil weiter leisten. Da die Gruppe keine Senatsgelder bekommt, ist sie, so Irmtraut, „permanent auf der Suche nach Freiräumen“. Wie lange ihnen die Oase im Osten erhalten bleibt, hängt vor allem davon ab, wie schnell die Eigentumsverhältnisse des Hauses geklärt werden können.
Ob die Vanillas künftig in der Kreutziger Straße proben werden, ist in der Gruppe umstritten. Einige Mitglieder haben keine Lust mehr auf die nie enden wollende Improvisation. „Ich spiel gerne im Kiez“, meint Ekki (35), „Kieztheater will ich aber nicht mehr machen!“ Ekki hat einen komfortablen Proberaum in Berlin Mitte aufgetrieben — die Entscheidung, wo die Reise der Vanillas nun hingeht, will die Gruppe
in den nächsten Wochen treffen. Nicht in Berlin, son
dern beim Theaterhof Priesenthal an der deutsch- österreichischen Grenze. Ekki: „Ein bißchen räumliche Distanz zu Berlin tut uns mal ganz gut!“
Alfons und Irmtraut hätten es wohl in keiner anderen deutschen Stadt geschafft, ihren Traum von der Schauspielerei wahr zu machen. Vor allem in Kreuzberg gab es das große Publikum, das sich neben Dutzenden von anderen Theatergruppen auch noch für diese weitere interessierte, gab es Menschen, die den festen Willen hatten, sich ihre Wünsche zu erfüllen. Doch es gab und gibt auch das kleinkarierte Kreuzberg: das linksradikal daherkommt und doch nichts anderes verkörpert als die moralinsaure Enge eines pietistischen schwäbischen Dorfes. „Ich finde nichts mehr langweiliger als eine eingeschmissene Fensterscheibe“, meint Bommi Baumann (45), Ex-Terrorist und Ex- Kellner vom „Kuckucksei“. Als er noch in der Kollektiv-Gaststätte arbeitete, gingen ihm vor allem die sogenannten „guten Jungs“ mit südwestdeutschem Dialekt auf die Nerven, die behaupteten, ein Gericht für 13 Mark sei „viel zu teuer“ und eines selbstverwalteten Betriebes unwürdig. Bei manchen Restaurants blieb es nicht bei verbalen Attacken. In mehrere angebliche Nobelrestaurants kippte die selbsternannte autonome Kiezpolizei kübelweise Fäkalien, das Atelier einer Künstlerin wurde verwüstet, weil sie angeblich die „Kiezstrukturen“ gefährde. Andere KreuzbergerInnen wurden eingeschüchtert oder verprügelt, weil sie die Autonomen öffentlich kritisiert hatten. Lange Zeit galt auch der Brand im Bolle-Kaufhaus am Görlitzer Bahnhof als Fanal der Bewegung — bis sich herausstellte, das nicht die Autonomen am 1. Mai 1987 das Feuer gelegt hatten, sondern ein pyromanischer Einzelgänger.
Auch Bommi hat mal bei Vanilla Gorgon mitgemacht — als Bühnenbauer und Roadie. Zur Zeit ist er arbeitslos. Das ehemalige Mitglied der Bewegung 2. Juni wohnt schon lange nicht mehr in Kreuzberg, Bommi lebt jetzt in Schöneberg. „Kreuzberg kannste voll vergessen!“ meint er. Der wahre Herrscher im Kiez sei inzwischen König Alkohol. „Viele Autonome, die ick kenne, haben aufgegeben und mit'm Saufen angefangen.“ Mythos Kreuzberg — für Bommi ist das „totaler Schwachsinn. Guck dir doch die Oranienstraße an. Ein Laden schicker als der andere.“ Vor kurzem, so berichtet er, habe eine Stadtillustrierte geschrieben, das „Kuckucksei“ sei schon ein richtiges Museum. Eine karg eingerichtete selbstverwaltete Gaststätte, in der die Belegschaft noch Diskussionen darüber führt, ob sie den Ankauf von Ikea-Möbeln politisch vertreten kann — „das gibt's doch kaum noch“. Das „Kuckucksei“ in der Wrangelstraße scheint bedauerlicherweise ein auslaufendes Modell zu sein. In drei Jahren endet der Pachtvertrag. Es ist kaum damit zu rechnen, daß die neuen Eigentümer den Vertrag verlängern werden. Besitzer von Computershops, Boutiquen und Edelrestaurants sind potentere Geldgeber. In den letzten 12 Monaten hat das Haus dreimal den Besitzer gewechselt, der letzte legte für die sechsstöckige Bruchbude über 1 Million Mark hin. Seit dem Mauerfall wird in Kreuzberg wieder
spekuliert, die Gewerbemieten steigen um bis zu tausend Prozent. „Die Veränderungen im Kiez gehen schleichend vonstatten“, meint Sabine Hoffmann, die im Verein SO 36 arbeitet. Zur Zeit organisieren die MitarbeiterInnen den Protest gegen die Öffnung der Oberbaumbrücke für den Autoverkehr. Sie führt über die Spree von Kreuzberg nach Friedrichshain. „Wenn die aufgemacht wird, wird der Kiez durch den Autoverkehr zerschnitten“, meint sie. Gutachten sprechen von 40.000 bis 60.000 Autos, die dann täglich von der Brücke nach Kreuzberg hineinrollen. Das traditionelle Fest nach der „revolutionären 1. Mai Demo“ soll in diesem Jahr in der Nähe der Brücke stattfinden.
Über Autolärm können sich Alfons und Irmtraut nicht beklagen. Denn die Kreutziger Straße in Friedrichshain ist eine Sackgasse — „ein bißchen so wie früher“. In den vier besetzten Häusern leben etwa 100 Menschen, so genau kann man das nie sagen. Es gibt ein Café, eine Kneipe, eine Galerie, eine selbstverwaltete Schlosserei, eine Schmiede, einen Abenteuerspielplatz — auf den ersten Blick ein idyllisches Kreuzberg en miniature. Am vergangenen Sonntag gab es ein fröhliches Straßenfest, bei dem Vanilla Gorgon aufgetreten ist. Zwei Tage vorher hatte Ekki, der ebenfalls zur Gruppe gehört, in seinem Daimler ein paar Requisiten vorbeigebracht. Plötzlich fragte ihn ein junger Mann, was er mit seinem dicken Mercedes hier wolle. Er sei wohl ein Spitzel. Er solle sich verpissen, sonst gebe es was aufs Maul.
Da war es wieder, das kleinkarierte Kreuzberg.
Foto: Straßenfest in der Kreutziger Straße in Berlin-Friedrichshain, dem neuen Hinterland Kreuzbergs — Christian Jongeblodt/Third Eye
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